(Forschung + Bibliothek) x Augenhöhe = Forschungsbibliothek

Zu den prägenden bibliothekswissenschaftlichen Debatten der vergangenen zwanzig Jahre zählt die erst unlängst wieder von Irmgard Siebert und Matthias Wehry befeuerte Kontroverse um Wesen und Aufgabe der Forschungsbibliothek. Ganz gleich aber, ob Forschungsbibliotheken, um überhaupt als solche gelten zu dürfen, einem differenzierten Kriterienkatalog genügen müssen, wie ihn etwa Haike Meinhardt entwickelt hat, oder ob bereits schon die Verfügbarkeit hochwertiger und gut erschlossener Spezialbestände – so die Position der Deutschen Forschungsgemeinschaft – diesen schillernden Bibliothekstypus konstituiert. Breiter Konsens dürfte in jedem Fall darüber bestehen, dass sich die wissenschaftspolitischen wie förderstrategischen Rahmenbedingungen gegenwärtig als für Forschungsbibliotheken ungewöhnlich günstig präsentieren. Dabei ist die Entscheidung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, ihre Initiative zur Stärkung herausragender Forschungsbibliotheken nach nur zwei Perioden einzustellen, sogar Beleg für die Gültigkeit dieser Einschätzung, machen doch offenbar die alternativ verfügbaren Förderangebote dieses spezifische Instrument verzichtbar. Angespielt ist damit aber keineswegs nur auf die zunehmende wechselseitige Durchlässigkeit der wissenschafts- bzw. infrastrukturbezogenen Segmente des Programmportfolios der potentesten Forschungsfördereinrichtung in Deutschland – stellvertretend hierfür sei die beide Bereiche adressierende Ausschreibung Forschungsdaten in der Praxis erwähnt. In diesem Zusammenhang geht es darüber hinaus auch um die zahlreichen Angebote jenseits der Förderlinien der Deutschen Forschungsgemeinschaft – allen voran Die Sprache der Objekte, Forschung in Museen und SammLehr – , mit denen die gerade in alten Bibliotheken blühenden materialorientierten Kompetenzen im Verbund mit der Forschung fruchtbar gemacht werden sollen.

Die angesprochenen Fördermöglichkeiten sind wiederum Ausdruck und zugleich Triebkraft einer im Zuge des Material Turn der Geistes- und Kulturwissenschaften erfolgten Aufwertung objektbezogener Kompetenzen zu wissenschaftlichen Schlüsselqualifikationen – ein Vorgang, der sich letztlich auch auf die aktuelle Diskussion um die Zukunft der Historischen Grundwissenschaften auswirken dürfte und für den emblematisch die Aufklärung des Fälschungsskandals um das New Yorker Exemplar von Galileo Galileis Sidereus Nuncius stehen kann. Zusätzlich beschleunigt wird dieser Prozess durch die inzwischen von einer nationalen Koordinierungsstelle gebündelten Aktivitäten zur besseren Sichtbarmachung wissenschaftlicher Sammlungen sowie nicht zuletzt durch deren politische Anerkennung als Forschungsinfrastrukturen durch Wissenschaftsrat und Gemeinsame Wissenschaftskonferenz. Vor diesem Hintergrund aber und zumal mit Blick auf die vielfältigen Verbindungslinien zu den dynamisch expandierenden Feldern von Open Science und Digital Humanities werden denn auch die schieren Dimensionen des Möglichkeitsraums erkennbar, der sich in neuer Qualität für die gleichberechtigte Partnerschaft und den wissenschaftlichen Dialog auf Augenhöhe zwischen Bibliothek und Forschung öffnet. Und womöglich liegt das kennzeichnende Charakteristikum von Forschungsbibliotheken auch gar nicht einmal so sehr im Betrieb eigener Forschungs-, Publikations-, Ausstellungs- und Stipendienbereiche, was Georg Ruppelt programmatisch anhand der Herzog August Bibliothek exemplifiziert. Denn ist es nicht weit weniger ihr institutionelles Arrangement als vielmehr ihr spezifischer Habitus, der eine Forschungsbibliothek letztlich ausmacht – mithin ihr Selbstbewusstsein, Forschenden auf Augenhöhe als „funktionale wissenschaftliche Partnerin“ zu begegnen, wie es Stefan Gradmann in seiner Vision für eine Forschungsbibliothek der Zukunft formuliert?

Angesichts der hier in nur groben Zügen ausgemessenen wissenschafts- und förderpolitischen Perspektiven sowie nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz – ein der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Vollmitglied angehörender drittmittelaktiver Verbund von Archiven, Bibliotheken, Museen, Forschungsinstituten und Laboren – ist es wohl kaum weiter verwunderlich, dass sich die Staatsbibliothek zu Berlin in ihrer bis zum Jahr 2020 gültigen Strategie neben ihren zahlreichen anderen Schwerpunktaufgaben mit Nachdruck auch zu ihrer Funktion als Forschungsbibliothek bekennt. Dabei wird konkret die weitere Profilschärfung im Bereich der sammlungsbezogenen Grundlagenforschung – insbesondere auf den Feldern von Provenienz-, Raubgut- und Materialitätsforschung – als handlungsleitendes Ziel benannt:

„Als Forschungsbibliothek agiert die Staatsbibliothek zu Berlin in mehreren Bereichen: Sie betreibt sammlungsbezogene Grundlagenforschung, wobei die institutionelle Einbindung in die Stiftung Preußischer Kulturbesitz optimale Rahmenbedingungen für eine spartenübergreifende Vermittlung objekt- und materialbezogener Forschungsergebnisse bietet; sie initiiert und beteiligt sich intensiv an gemeinsamen, auch spartenübergreifenden Projekten mit der Wissenschaft; sie profiliert sich als Produzentin und Anbieterin geistes- und kulturwissenschaftlicher Forschungsdaten; und sie gestaltet konsequent die partizipative Vermittlung von Forschungsergebnissen sowohl an die Wissenschaft selbst als auch an eine breitere Öffentlichkeit.“

Und auch in unserem Haus waren es in jüngster Zeit gerade die durchaus bereits als neues Paradigma etablierten Material Culture Studies – hierauf deutet zumindest die Vielzahl der entsprechenden Tagungen, Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereiche hin – , die sich als Plattform für eine gelingende funktionale Partnerschaft zwischen Bibliothek und Forschung empfahlen. Dies belegt zum einen das kooperativ mit der Universität Potsdam durchgeführte und im Rahmen der eingangs erwähnten Ausschreibung Die Sprache der Objekte geförderte Verbundprojekt Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher, in das die Staatsbibliothek zu Berlin ihre Expertise in der Digitalisierung, wissenschaftlichen Erschließung und konservatorischen Sicherung von historischen Handschriften und Druckwerken einbringt. Zum anderen aber erweist sich der Dialog zwischen Bibliothek und Forschung, wie er in Form einer mehrteiligen Vortragsreihe unter dem Titel Die Materialität von Schriftlichkeit gemeinsam mit Angehörigen der Berliner und Potsdamer Universitäten organisiert wird, als ausgesprochen anregend und ertragreich. An dieses Veranstaltungsformat ist über seine öffentlichkeitswirksame Vermittlungsfunktion hinaus vor allem auch der Wunsch gerichtet, es möge sich als Forum für die im Orbit der Material Culture Studies verorteten Aktivitäten sowohl innerhalb der Stiftung Preußischer Kulturbesitz als auch an den Universitäten und Forschungseinrichtungen im Großraum Berlin etablieren. Zwar wird die Reihe ihr Potential als Inkubator für kooperative, die Grenzen von Disziplinen und Sparten überschreitende Forschungsvorhaben erst noch unter Beweis stellen müssen. In jedem Fall aber haben die bisherigen Abende im Zeichen der „Materialität von Schriftlichkeit“ gezeigt, dass es nur eine kleiner Schritt ist von der Bibliothek für Forschung und Kultur – so das Motto der Staatsbibliothek zu Berlin – zur Bibliothek für Forschung zur materiellen Kultur.

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