12. Dezember
Farben, Formen, Ungeheuer? Was die Islandia-Karte von Abraham Ortelius wirklich zeigt
Wolfgang Crom (Leiter der Kartenabteilung)
Poppig-bunte Farben und ein ganzer Zoo an Meeresungeheuern springen den Betrachtenden der Island-Karte von Abraham Ortelius förmlich an. Die Augen finden kaum Halt und Ruhe, sie springen über das Kartenbild und entdecken dabei immer neue Details, wo sie nicht verbleiben, denn gleich fordert die nächste Kuriosität kurze Aufmerksamkeit. Die Karte wirkt wie ein Wimmelbild, sie beschäftigt und amüsiert den Schauenden, denn sie erfüllt das Klischee, das den frühen Kartographen und ihren Werken gerne nachgesagt wird: eine überbordende Fülle an Phantasie.
Hatten die frühen Kartographen tatsächlich zu viel Phantasie, waren sie Phantasten? Wollten sie ihre Kartennutzerinnen und -nutzer mit den gefährlichen Monstern ängstigen, schockieren oder vor ihnen warnen, wenn man eine Reise ins Unbekannte wagen wollte? War es schreiende Sensationslust?
Nichts von alledem war das Motiv für die Gestaltung dieser Karte, denn die Absicht war allein Wissen weiterzugeben, die Karte mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln als Informationsmedium zu nutzen. Denn wenn man die Karte nicht flüchtig, springend oder mit voreingenommenen Erwartungen betrachtet, erschließen sich plötzlich viele Informationen, die uns der Kartenmacher mitteilen möchte. Man kann diese Karte lesen.
Zunächst fällt die recht detaillierte Darstellung des Inselumrisses auf. Vor allem die kartographische Präzision des Nordens mit den kerbförmigen Fjorden erstaunt uns zum Ende des 16. Jahrhunderts. Grundlage dafür sind die von dem Bischof Guðbrandur Þorláksson (Gudbrandur Thorlaksson, 1541–1627) durchgeführten astronomischen Messungen und Kartierungen, die Ortelius nachnutzte.
Braune Gebirgszüge und Hügelketten sowie das blau eingefärbte hydrographische Netz mit Flüssen und Seen gliedern die Landfläche. Auffallend ist die Darstellung der gewaltige Feuer ausstoßenden Hekla. Der Vulkan gehört bis heute zu den aktivsten der Region und wirft immer wieder Aschen und Bomben aus. Aber auch die Nennung von Thermen und kochenden Quellen (Geysire) weisen auf den vulkanischen Untergrund Islands hin. Schließlich finden sich vereinzelt Hinweise auf die Inselfauna.
Die Besiedelung ist mit typischen Ortsvignetten für Dörfer oder Klöster angedeutet und mit einem lieblos aufgetupften roten Klecks markiert.
Überhaupt ist die Kolorierung dieses Exemplars recht eigenwillig. Nicht nur die lustlos geschmierten Ausführungen der Rahmen, der Kartusche oder der Maßstabsangabe fallen auf, auch die Auswahl und die Kombination der Farben ist gewöhnungsbedürftig und erinnert ältere Betrachterinnen und Betrachter vielleicht an die aus den 1970er Jahren bekannten Prilblumen. Die farbliche Zweiteilung Islands jedoch hat ihre Berechtigung, denn die gelb kolorierte Fläche stellt das Bistum Hólar und die pinkfarbene Fläche das Bistum Skålholt dar. Beide Bischofsstädte haben die größte Ortsvignette erhalten.
Wenden wir uns nun der Meeresfläche zu und beginnen unsere weitere Betrachtung im Nordosten, im Europäischen Nordmeer. Ineinander geschachtelte Eisschollen geben den bildhaften Hinweis auf das Vorkommen von Treibeis, auf dem sich Eisbären befinden; hier ist für die Schifffahrt kein Durchkommen. Doch weiße Tiere auf weißem Grund konnten nicht zufriedenstellen, weshalb die Bären kurzerhand die Farbe der bekannten Braunbären erhalten haben.
Unterhalb des Treibeises finden sich große Baumstämme im Wasser. Sie sind als stilistisches Mittel für die Darstellung von Meeresströmungen zu lesen, sie geben den Seefahrern mahnende Hinweise für vorsichtiges Navigieren. Tatsächlich sind die arktischen und nordatlantischen Meeresströmungen sehr komplex. Ein Ausläufer des Golfstromes fließt entlang der norwegischen Küste nach Norden, wobei dort Treibholz aufgenommen und durch die nordatlantische Umwälzbewegung etwas weiter westlich und nach Süden und schließlich mit Treibeis Richtung Grönland weitertransportiert wird. Ausläufer des Ostgrönlandstromes ist der Ostislandstrom von der Barentssee und der Grönlandsee kommend und sich mit dem rückläufigen Färöerstrom vermischend. Die Meeresströmungen um Island mit dem Aufeinandertreffen von warmen und kalten Strömungen sind auch ausschlaggebend für das sehr gute Nahrungsangebot für die Fische. Dies wiederum ist die Grundlage für den großen Artenreichtum an Meeressäugern in diesem Gebiet.
Schaut man sich die vermeintlichen Seeungeheuer etwas genauer an, darf man sich von den grimmigen Gesichtern, aufgerissenen Mäulern und enormen Hauern nicht abschrecken lassen. Dann erkennen wir nämlich zwei wichtige Details: bei einigen finden sich Wasserfontänen, die ein starkes Ausdrucksmittel insbesondere für Wale sind. Die Buchstaben wiederum verweisen auf die Erläuterungen im begleitenden Text des Atlas, in dem die Tiere benannt und mit wenigen Angaben beschrieben werden. Bild und Text vermitteln somit eine tiefere Botschaft als das Vorkommen von Seeungeheuern, denn sie weisen auf eine große Artenvielfalt in den Gewässern um Island hin. Die Biodiversität der verschiedenen Wale ist enorm hoch, bis heute sind dort bis zu 23 Walarten regelmäßig anzutreffen. Auch dieses Wissen möchte uns die Karte vermitteln.
Islandia-Karte von Abraham Ortelius (1585), ca. 1:1.700.000, in: Theatrum Orbis Terrarum, Ausgabe 1595 [Antwerpen : Plantin]: Kart. B 132-103
Abraham Ortelius (1527–1598) war kein Phantast, sondern ein für die damalige Zeit weit gereister Gelehrter, Kartensammler und Kartenmacher. Aus dem von ihm gesammelten Kartenmaterial konzipierte er den ersten „modernen“ Atlas, in dem er die Karten redaktionell einheitlich gestaltete. Das Werk nannte er Theatrum Orbis Terrarum – was wörtlich zu nehmen ist. Es ist ein Titel mit Programm, denn es handelt sich um eine systematische und historisch begründete Weltschau in der Kombination von Karte und rückseitigem Text. Die hier gezeigte Islandkarte wurde in der 1595 erschienenen Ausgabe aufgenommen, die sich im Bestand der Staatsbibliothek befindet.
Die Karte will die bemerkenswerte Biodiversität der Meeressäuger zeigen. Doch der Stecher der Karte hat wohl selbst nie einen Wal gesehen, sondern sich an Beschreibungen der Seefahrer und anderen Kartenvorlagen orientiert. Eine dieser Vorlagen ist die Carta Marina von Olaus Magnus (abrufbar in den digitalisierten Sammlungen der BSB), in der bereits viele Attribute der Islandia-Karte zu finden, jedoch nicht so klar und eindeutig zu interpretieren sind. Sicherlich sollte auch auf die Risiken einer Seereise im Allgemeinen und die durch ihre Riesenhaftigkeit allein schon bedrohlich wirkenden Meeresbewohner im Besonderen hingewiesen werden. Gefahr kann durch Monstrosität angezeigt werden, was bereits in der Antike zur Anwendung gekommen ist. Diese Mitteilungsform ist bis heute wirkmächtig und lässt beim Betrachten der Karte andere Informationsebenen in den Hintergrund treten. Doch die eigentlichen Informationen liegen offen: Die durch Beobachtung gewonnenen Kenntnisse über die Eigenheiten Islands, die Strömungsverhältnisse und die Artenvielfalt des umgebenden Meeres. Die naturwissenschaftlichen Hintergründe waren vor 450 Jahren nicht bekannt, jedoch die Tatsachen und daraus abzuleitende Wirkungen. Insofern ist die Islandia-Karte von Abraham Ortelius phantastisch, aber nicht im Sinne von kurios, wunderlich oder Phantasie anregend, sondern im Sinne von außerordentlich und großartig.