11. Dezember
Das Café St. Oberholz in Berlin-Mitte ist hip. Es ist eine Berliner Coworking-Institution und gilt als Geburtsort einiger großer Start-Ups. Außerdem ist der Standort am Rosenthaler Platz auch ein geschichtsträchtiger Ort: Zu Beginn des letzten Jahrhunderts befand sich in diesen Räumen nämlich der berühmte Aschinger – eine Stehbierhalle, die in Döblins Berlin Alexanderplatz genauso prominent auftaucht wie in Ernst Haffners Roman Blutsbrüder. Und ziemlich aktuell: Auch Gereon Rath – Sie wissen schon: Babylon Berlin, Volker Kutscher etc. – ist Stammgast im Aschinger. Berühmt berüchtigt ist Aschinger aber auch für das florierende Geschäft mit den Nationalsozialisten. Doch zurück in die Gegenwart: Nicht nur der Ort, sondern auch die Idee des Coworking hat Vorläufer. Denken Sie nur an die Kaffeehäuser in Wien um die Jahrhundertwende, in denen sich die schriftstellerische High Society traf: Peter Altenberg, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Alfred Polgar, Franz Werfel und viele mehr. Judith Lang hat die Ähnlichkeiten anlässlich eines Jubiläums am 20.06.2015 im Tagesspiegel auf den Punkt gebracht: „Jetzt feiert das Zuhause der digitalen Boheme, der Treffpunkt der Start-up-Szene und wie das Berliner Café sonst noch so genannt wird, seinen 10. Geburtstag.“
Und spätestens hier kommt nun unser heutiges Digitalisat ins Spiel: „Desjatilětīe restorana ‚Věna‘: literaturno-chudožestvennyj sbornik“ – [Zum] Zehnjährigen Jubiläum des Restaurants ‚Věna‘: ein literarischer und künstlerischer Sammelband“. Hier sehen Sie nämlich einen Band, den Ivan Sergeevič Sokolov 1913 ebenfalls anlässlich eines zehnjährigen Jubiläums herausgab. Sein Café Vena (dt.: Wien) in St. Petersburg feierte Geburtstag und nicht nur der Name des Etablissements erinnerte an die Wiener Kaffeehäuser: Im Vena ging die Crème de la Crème der Petersburger Bohème Anfang des 20. Jahrhunderts ein und aus, was nicht zuletzt an seiner zentralen Lage an einer Straßenecke nahe des Newski-Prospekt lag.
Berühmte Schriftsteller wie Maksim Gor’kij oder Vladimir Majakovskij schätzten das Lokal, in dem sich Mitwirkende der hauptstädtischen Zeitungen, Kunstschaffende, Theatergänger*innen und Schauspieler*innen bis spät in die Nacht die Klinke in die Hand gaben. Aber täuschen Sie sich nicht: Im Vena ging es bei weitem nicht nur um Kunst, sondern mindestens ebenso sehr um Geschäfte und die Revolution.
Während nun der Artikel aus dem Tagesspiegel erwähnt, dass der Künstler Bob Rutman im St. Oberholz kostenfreies Frühstück erhält und dafür dem Eigentümer seine Kunstwerke überlässt, und wir ab und an den Blog https://sanktoberholz.de/lost-and-found/ ansehen, sammelte Sokolov Porträts und Zeichnungen seiner Kund*innen. Er ließ sich von seinen prominenten Gästen Erinnerungsstücke in Form einer Unterschrift, einer Karikatur, eines Vierzeilers oder einiger Takte eines neuen Liedes aushändigen und stellte sie anschließend im Café aus (s. S. 119). Klicken Sie sich am besten einfach durch unseren heutigen Band und entdecken Sie die kleinen Zeichnungen, Anekdoten und Epigramme selbst!
Das Vena ereilte nach 1917 das gleiche Schicksal wie viele ähnliche Einrichtungen – es hatte keinen Platz mehr in der neuen Gesellschaft. Anfang der 20er Jahre verließen viele Angehörige der Bohème die Sowjetunion.
Seit 2017 muss die digitale Bohème im St. Oberholz übrigens regelmäßig einen neuen Flat White bestellen und soll sich nicht mehr stundenlang mit einer einzigen Tasse über Wasser halten. Wir sehen darin aber keine bösen Vorzeichen, sondern hoffen, dass es eines Tages ganz ähnlich wie über das Vena heißen wird:
„Es ist unbestritten, dass das ‚Vena‘ im Laufe des vergangenen Jahrzehnts im Leben des Petersburger Literaten eine große Rolle gespielt hat …“