16. Dezember

Unterstrichene Wörter, Notizen am Rand: Solche in Bibliotheken verpönten Lesespuren werden zum Forschungsgegenstand, wenn sie systematisch in einer Büchersammlung auftauchen und so die Arbeitsweise ihres Eigentümers nachvollziehbar machen. Die Berliner Bibliothek von Alfred Kantorowicz (1899–1979) ist dafür ein interessantes Beispiel.
Kantorowicz war Jurist, Germanist, Schriftsteller, Journalist, Verleger und Hochschullehrer jüdischer Herkunft. Er hinterließ zahlreiche Arbeits- und Lesespuren in seinen Büchern, die von intensiver Auseinandersetzung mit den Texten zeugen. Typisch sind auf dem Vorsatz notierte Seitenzahlen mit Stichworten. Außerdem finden sich in seinen Büchern zahlreiche Widmungen.
Seine Büchersammlungen sind damit Zeugnisse seines bewegten Lebens. Sein politisches Engagement für die KPD veranlasste Kantorowicz 1933 zur Emigration nach Paris. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gelang ihm nur knapp die Ausreise in die USA. Bereits im Jahr 1946 kehrte er voller Hoffnung nach Deutschland zurück, ließ sich in Ostberlin nieder und trat mit der Herausgabe der literarischen Zeitschrift „Ost und West“ für die Vermittlung zwischen den politischen Lagern ein.

Kantorowicz’ bald einsetzende Enttäuschung über das politische System der DDR wird beispielsweise an seinem Drama „Die Verbündeten“ deutlich. Das Theaterstück über den Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg wurde 1950 vom Aufbau-Bühnenvertrieb als gedrucktes Manuskript den Bühnen angeboten. Noch vor der Aufführung im Deutschen Theater brachte allerdings das Kultursekretariat der SED Einwände vor und Kantorowicz musste Änderungen an dem Manuskript vornehmen. Davon zeugt ein Manuskriptdruck mit seinen – teils eingeklebten – Korrekturen in seiner sogenannten ‚Berliner Bibliothek‘, der sich heute noch in der Staatsbibliothek zu Berlin befindet (Abbildungen aus dem Exemplar 50 MA 53244). Nach der Erstaufführung 1951 wurde sein Stück trotzdem auf Anordnung des Kultursekretariats der SED abgesetzt. Einige Jahre später entschloss sich Kantorowicz zur Flucht in den Westen.

Die dabei 1957 in der DDR zurückgelassene Bibliothek von 4.000 Bänden wurde beschlagnahmt, enteignet und letztlich unter Beteiligung des Staatssekretariats für Hochschulwesen und des Ministeriums des Innern der DDR an die Deutsche Staatsbibliothek übergeben. Nach Klärung der Eigentumsverhältnisse und nachdem die SUB Hamburg eine Zusammenführung der Berliner Bibliothek mit dem Nachlass Kantorowiczs aus Kapazitätsgründen ablehnen musste, wurde die Bibliothek schließlich in der Abteilung Historische Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin mit all ihren Provenienzspuren erschlossen und ist nun der Forschung zugänglich. Die Ergebnisse der Erschließungsarbeit können Sie sich im ProvenienzWiki anschauen.

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