Triggerwarnung: Dieser Beitrag beinhaltet Gewalt, Misshandlungen, Gefangenschaft, Tierquälerei, Machtmissbrauch, Angstszenen, Amputationen, Mord und Tod.

Die Grausamkeit der Grimms

Eine Ekphrase

„Zwischen Faszination und Furcht: Die Funktion des Grausamen im Märchen neu denken“,

las Jenny Lind auf dem Konferenzbanner und seufzte.

„Schreib was Gemütliches“, hatte ihr Ressortleiter gefordert. „Immerhin wäre dieser Hygge-Hans 220 Jahre alt geworden!“
„Hygge-Hans?“
„Na, dieser Hans Ludwig Andersen!“
„Ich bin keine Andersen-Expertin“, hatte Jenny gemault, doch ihr Chef blieb hartnäckig: „Nichts Anspruchsvolles! Nur so eine kleine harmlose Weihnachtsstory! Viel Herz, ein bisschen gute alte Zeit, Fotos dazu, ein paar O-Töne – das schaffst du schon!“

Darum stand sie nun im weihnachtlich geschmückten Foyer des Märchen- und Kongresszentrums und versuchte, sich anhand der urigen Wegweiser zu orientieren. In der Annahme, auf die Hautevolee der Märchenforschung zu treffen, hatte sie sich sorgfältig geschminkt und in hochhackige Schuhe gezwängt, doch bisher waren nur einige Mittelalterfans vorbeigeschlurft. Keiner wirkte besonders relevant, aber das konnte sie von Sören, dem Fotografen neben ihr, auch nicht behaupten.

Jenny marschierte los, zog ihr Aufnahmegerät aus der Handtasche und diktierte: „Hans Christian Andersen verzauberte Generationen mit seinen romantischen, poetischen Märchen, deren Figuren zeitlose Geschichten voller Gefühl, Wunder und Magie erschaffen.“
Sie passierten eine Tür, die mit Brüder Grimm beschriftet war, und hinter der laute Schreie und Gekrähe zu hören waren. Jenny verzog das Gesicht und sprach weiter: „Andersens Märchen sind feinsinnig und poetisch, die der Grimms dagegen archaisch, hart und von Grausamkeit geprägt.“

Sie überlegte und formulierte suchend: „Der berühmte Däne, in einer Reihe zu nennen mit … mit …“
„Hamlet?“, schlug Sören vor.
„Ernsthaft? Hamlet?“, schnappte Jenny zurück.
„Piet Hein?“
„Den haben Sie sich doch gerade ausgedacht! Ich meine diesen Philosophen. Kie … Kier … Kierga … Na, wie hieß der noch gleich?“
„Sloterdijk?“, fragte Sören.
„Boah, was lernt ihr eigentlich noch auf der Uni?“, fragte Jenny genervt. „Lassen Sie es gut sein, ich google es später! Sind wir endlich mal da?“

„Ja“, sagte Sören und deutete auf einen völlig nackten Mann, der mit hocherhobener Nase vor ihnen stand und huldvoll grüßte.
„Kaiserliche Hoheit“, grüßte Sören zurück, und der Mann nickte gnädig und schritt weiter.
„Der wird nicht fotografiert!“, zischte Jenny und starrte dem Nackten fassungslos hinterher. Sie hielt das Aufnahmegerät fest in der Hand und sprach leise hinein: „Andersen kritisierte in seinen Märchen die Monarchie auf subtile, ironische Weise, indem er höfische Eitelkeiten humorvoll und scharfzüngig bloßstellte.“

„Bei uns auf dem Hof gab es diesen Puterhahn, der meinte auch, Kaiser zu sein“, kam es im Plauderton von ihrer Seite.
Jenny wandte sich um und wich erschrocken vor einem wunderschönen Schwan zurück. „Haben Sie etwas gesagt?“, fragte sie.
„Sie haben richtig gehört!“, beteuerte der Schwan strahlend. „Ich wurde auf einem Bauernhof geboren. Unglaublich, nicht wahr? Aber wie ich immer sagte: ‚Es schadet nichts, in einem Entenhofe geboren zu sein, wenn man nur in einem Schwanenei gelegen hat!‘“
„Herrje, nervst du schon wieder mit deiner Herkunft?“, fragte ein prachtvoll gekleideter Tambourmajor, der ordenklirrend hinzugetreten war und nun an seiner Pfeife zog.

„Majestät, ich habe nur erwähnt …“, empörte sich der Schwan, doch der reichverzierte Soldat brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Ich bin hier der König“, stellte er sich Jenny und Sören vor und salutierte. „Und im Gegensatz zu dem Geflügel hatte ich meinen Marschallstab im Tornister! Ich habe Schlachten geschlagen und mir damit mein Schicksal verdient!“
„Majestät meinen damit, ein Feuerzeug hätte …“
„Das ich wo habe?“ Der Soldatenkönig klopfte sich suchend ab; die Orden an seiner Brust schepperten.
„Sie sind also der Soldat aus dem Märchen Das Feuerzeug?“, nahm Jenny das Gespräch auf und Sören hob die Kamera.  

„Sie wollen wohl ein Porträt von mir?“, fragte der Soldatenkönig und nickte verständnisvoll. „Aber vielleicht doch lieber mit meinem Volk? Buntes Volk im Hintergrund putzt doch ungemein!“
Und mit Blick auf den hüllenlosen Kaiser setzte er leise hinzu: „Oder aber es irritiert.“

Einvernehmlich schlenderten sie das Foyer entlang, den Kaiser hinter sich lassend und den grummelnden Schwan im Schlepptau. Unterwegs stolperte Jenny über einen kleinen Zinnsoldaten, der standhaft dastand und sich hingebungsvoll einen alten Pappaufsteller von Jean Butler ansah.
Jenny neigte sich zu ihm herab und fragte belustigt: „Sie entflammen leicht für Tänzerinnen, oder?“
Der Soldat, der einen schwachen Geruch nach Kanalisation und Fisch verströmte, nickte eifrig und wisperte erregt: „Und ihre Haare brennen auch schon!“

Bevor Jenny etwas erwidern konnte, hörten sie quer durch die Halle, wie ein wunderschöner Prinz eine junge Frau anpöbelte, die ihn ignorierte und leise singend einen Kessel wiegte.
„Ich bin nun dahin gekommen, dass ich Dich verachte!“, schrie der Prinz. Er wiederholte den Satz wieder und wieder und steigerte dabei seine Lautstärke.
„Wir müssen da eingreifen“, forderte Sören, doch der König winkte ab: „Er verachtet sie seit fast zweihundert Jahren, das hat alles seine Richtigkeit!“
Und der Schwan pflichtete bei: „Das hat sie nun davon!“

„Da sind wir! Willkommen in meiner Residenz“, trompete der Soldatenkönig endlich und öffnete eine Tür, auf der in mächtigen Lettern der Name Hans Christian Andersen prangte.
Jenny sah sich um. Es war, als hätte man eine Puppenstube betreten – und zwar eine sehr antiquierte, in der sich Platz und Plüsch einen erbarmungslosen Kampf lieferten. Dichte Vorhänge mit schweren Quasten sperrten das Leben auf der Straße aus. Kostbare Chinoiserie-Tapeten schmückten die Wände, zeigten Nachtigallen und Jasminblüten auf dunklem Grund. Üppige, samtbezogene Sofas und Sessel thronten schwer im Raum; der dicke, rankenreiche Teppich verschluckte jedes Geräusch. Die Luft war warm, stickig und roch nach Risengrød.
Blasse Frauen saßen auf Sofas, Sesseln und Stühlen und hielten die Köpfe gesenkt, versunken in ihre Handarbeiten.
„Hat jemand mein Feuerzeug gesehen?“, dröhnte der Soldatenkönig in den Raum. Die Frauen zuckten zusammen und begannen, hektisch in ihren Ridikülen zu suchen.

Ein kleines Mädchen mit einem Bauchladen vor der Brust trat zaghaft ein. Es war barfuß, hatte hochrote Wangen und zitterte vor Kälte.
„OMG! Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern!“, rief Jenny begeistert und griff nach ihrem Diktiergerät. „Die Shirley Temple unter den Weihnachtsmärchenfiguren! Woher rührt die anhaltende Popularität, was meinst du?“
„Vielleicht, weil blondgelockte Mädchen in Lumpen immer funktionieren?“, wagte die Kleine eine Antwort.
„Na, außer beim Streichholzhandel“, dröhnte der Soldatenkönig, und der Schwan schleuderte vor Lachen seinen langen Hals hin und her.

„Wo sind deine Schuhe?“, fragte Sören besorgt. „Deine Füße sind ganz rot und blau gefroren!“
„Ich habe sie verloren, mein Herr“, antwortete die Kleine traurig. „Zwei Wagen rollten so rasch vorbei!“ 
„Hast du mein Feuerzeug gesehen?“, fragte der Soldatenkönig drohend, und die Kleine zog furchtsam ihren Kopf ein.
„Nein, Majestät“, flüsterte sie ängstlich. „Aber wünschen Sie Feuer, Majestät?“ Und ehe er antworten konnte, hatte das kleine Mädchen ein Streichholz angerissen.
„Du solltest etwas achtsamer mit deiner Ware umgehen!“, tadelte der König und neigte sich mit seiner Pfeife zu dem Kind.
„Majestät, am Ende der Nacht bin ich sowieso tot“, erwiderte die Kleine und hielt das Hölzchen noch etwas länger, um ihre frostwunden Hände zu wärmen.
„Wieso kommst du überhaupt so spät?“, fragte der König das kleine Mädchen streng und der Schwan stemmte stimmungssynchron seine Flügelspitzen in die Seiten.
„Vergeben Sie mir, Majestät, erst habe ich nicht gewagt, heimzukommen und dann habe ich dem Kaiser noch zurufen müssen, dass er gar nichts anhat!“

„Der Kaiser hat nicht mehr Hirn als eine Erbse“, sprach der König in Jennys Diktiergerät und setzte gerade zu einer Erläuterung an, als aus der Ecke ein drohendes: „Was höre ich da von Erbsen?“ ertönte und eine Prinzessin sich steifrückig ins Licht schob.
Jenny lächelte die junge Monarchin an, die nun schief vor ihr stand: „Ach, die Prinzessin auf der Erbse“, rief sie. „Das ist ein so bezauberndes, romantisches …“
„Romantisch? Romantisch? Gefährlich, sage ich!“, rief die Prinzessin und stemmte die Fäuste in die Hüften.
„Wissen Sie, wie hoch zwanzig Matratzen und nochmal zwanzig Eiderdaunendecken sind?“, fragte sie gereizt.
„Schon mit den Matratzen kommen Sie auf vier Meter Höhe, mit den Decken liegen Sie bei etwa sechs Metern. Dazu ein unruhiger Schlaf wegen dieser furchtbaren Erbse. Die eigentliche Aufgabe war, nicht aus dem Bett zu fallen und sich das Genick zu brechen!“

„Es ist wohl auch eher ein symbolisches Märchen. Die Geschichte der ultimativen Monarchinnenauslese und Sensibilität eines Autors!“, meinte Jenny verunsichert.
„Ha!“, machte die Prinzessin grimmig. „Die Geschichte eines Bandscheibenvorfalls und der ewigen Unterstellung, ich hätte mich hochgeschlafen!“
„Andersen selbst soll durch einen Sturz aus dem Bett ums Leben gekommen sein“, warf Sören ein.
„Wirklich?“. Die Prinzessin lächelte mit schmalen Augen. „Karma ist wirklich ein ræv.“

Ende des ersten Teils.

Hier geht es weiter: 2. Teil

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