Orientalische Spiegelungen. Selbst- und Fremdbilder in frühaufklärerischen Reisebeschreibungen
Werkstattgespräch mit Constanze Baum
Die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht beflügelten die Vorstellungen des europäischen Lesepublikums von einem Orient voller Abenteuer, märchenhafter Gestalten und Dämonen, fremder Kulturen und Gebräuche. Antoine Gallands Zusammenstellung und Übertragung dieser Sammlung von Geschichten ins Französische zu Beginn des 18. Jahrhunderts war jedoch nicht voraussetzungslos. Durch zahlreiche Reisebeschreibungen des 17. Jahrhunderts, die seit 1680 eine besondere Konjunktur erfuhren, war der kulturelle Großraum des Orients für ein breiteres Lesepublikum bereits in unterschiedlichster Weise erschlossen, sei es durch diplomatische, wissensorientiert-gelehrte oder kaufmännische Narrative. Reisende wie der Sprachwissenschaftler Jean de Thévenot, der Gelehrte Jean Chardin oder der Diamantenhändler Jean-Baptiste Tavernier legten umfangreiche und teils illustrierte Aufzeichnungen ihrer oft jahrelangen Fahrten und Aufenthalte durch diese Gegenden vor –und dies durchaus mit erzählerischem Anspruch. Solche Reiseberichte bildeten den Nährboden für den literarischen Siegeszug von Scheherazades Erzählungen aus der Feder Gallands, boten aber auch anderen aufklärerischen Schlüsselwerken wie Montesquieus Lettres persanes Stoff genug. Durch die Erzählungen der vor- und frühaufklärerischen Reisenden wurde der Weg für die Faszinationsgeschichte eines von Selbst- und Fremdbildern durchwobenen Orientbildes bereitet, indem sich neben Schilderungen realer Begebenheiten auch Moralvorstellungen und Haltungen der je eigenen Kultur in den Texten niederschlugen und das Bild des Anderen, Fremden prägten. In den Beschreibungen ferner Länder, ihren Sitten und Moden, in den Schilderungen von den Strapazen der Reisen zwischen Seeabenteuern, Oasen und Karawansereien scheinen demnach Vorstellungswelten auf, die als Prä- und Kontexte von Tausendundeiner Nacht nicht außer Acht gelassen werden sollten, um das komplexe Gefüge reisender Erzählungen zwischen Orient und Europa zu komplettieren.
Begleitveranstaltung zur Ausstellung Reisende Erzählungen – Tausendundeine Nacht zwischen Orient und Europa.
Um 17 Uhr besteht die Möglichkeit an einer Führung durch die Ausstellung teilzunehmen. Treffpunkt ist vor dem Dietrich-Bonhoeffer-Saal.
Dr. Constanze Baum ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie lehrt und forscht am Institut für deutsche Literatur. Zu ihren wissenschaftlichen Schwerpunkten zählen u.a. die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts sowie frühneuzeitliche Wissenskulturen.
Publikationen / Auswahl:
Monographie:
Ruinenlandschaften. Spielräume der Einbildungskraft in Reiseliteratur und bildkünstlerischen Werken über Italien im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Heidelberg 2013
Publikationen zum Themengebiet:
Fürst Pückler und der Orient.
In: Reisen in den Orient vom 13. bis zum 19. Jahrhundert. Hg. von der Winckelmann-Gesellschaft. Stendal 2007, S. 99–114
„Wohl mit Hafiz darf ich sagen…“ Platens Ghaselendichtung
In: „Wenn die Rosenhimmel tanzen“. Orientalische Motivik in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Rüdiger Görner und Nima Mina. München 2006, S. 108–127.
Zuletzt erschienen:
Ruinen – Bedeutungshorizonte einer Architekturform des Zerfalls. Eine Bestandsaufnahme.
In: Modell und Ruine. Hg. von der Werkleitz Gesellschaft e.V. Halle (Saale) 2019, S. 9–13.
Vom zündenden Funken. Feuersbrünste als Katastrophenerfahrung zwischen Bericht und ästhetischer Herausforderung.
In: Themenheft: Katastrophen. Hg. von Constanze Baum und Alexander Košenina. Zeitschrift für Germanistik N.F. XXIX 3 (2019), S. 503–524.
In Kooperation mit der Humboldt-Universität zu Berlin