Vom Text zum Bild – Vom Transkribathon zur Kunst- und Bildgeschichte

Ein Gastbeitrag der Kunstgeschichte-Studierendengruppe der Humboldt-Universität zu Berlin

Von Mai bis Juli 2021 veranstaltete die Staatsbibliothek zu Berlin den Transkribathon ‚Faithful Transcriptions‘, ein digitales Crowd-Sourcing-Projekt zu theologischen Handschriften des Mittelalters. Eine Gruppe von Studierenden des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität war daran mit Transkriptionen aus drei illuminierten Historienbibeln (Österreich und Niederrhein, 1450–1472) beteiligt. Von Beginn an gab es die Idee, die Texte für eine Beschäftigung mit den Miniaturen zu nutzen und die fachspezifische Nachnutzung der Daten in einem Blogbeitrag zu demonstrieren. Der Fokus liegt im Folgenden auf dem inhaltlichen Verhältnis von Text und Bild.

In den drei Handschriften der Staatsbibliothek zu Berlin – Ms. germ. fol. 1108 (Wien oder Umgebung, 1472), Ms. germ. fol. 1413 (Österreich, Mitte 15. Jahrhundert) und Ms. germ. fol. 516 (Köln (?), um 1457-60) – wird dieselbe Geschichte mit immer anderen Worten und Bildern erzählt, wie es sich am Beispiel der alttestamentlichen Episode mit Bileams Eselin zeigen lässt. Im zweiten Teil des Blogs folgen drei Betrachtungen von je einer Miniatur, die für die jeweilige Handschrift besonders ist. Insgesamt soll deutlich werden, dass sich die Bilder an der Erzählung beteiligen und weitaus mehr sind als nur Illustrationen des Geschehens.

Bileams Eselin

Der Prophet Bileam reitet auf seiner Eselin ins Königreich Moab. Er ist beauftragt das Volk Israel zu verfluchen, doch Gott sendet einen bewaffneten Engel, der sich ihm in den Weg stellt. Aber Bileam sieht ihn nicht, nur sein Tier nimmt ihn wahr. Als es scheut und vor dem Gottesboten stehen bleibt, schlägt der Reiter seine Eselin. Nach dem dritten Schlag lässt Gott das Tier wie einen Menschen sprechen und über seine Qualen klagen. Nun öffnet Gott Bileam die Augen: Endlich erblickt auch der Prophet den Engel. Reumütig erkennt er in seiner Blindheit eine Strafe für sein Fehlverhalten. Nun wird er das Volk Israel nicht verfluchen, sondern segnen. Das Motiv des Sehens und Nicht-Sehens steht im Kontrast zur Hierarchie von Mensch und Tier: Der fehlgeleitete Prophet ist blind, sein Tier hingegen nimmt die Gegenwart des Gottesboten sofort wahr.

Der un/sichtbare Gottesbote im 4. Buch Mose (Numeri 22–24)

Mgf 516, fol. 75r (Detail)

Mgf 1413, fol. 77v (Detail)

Mgf 1108, fol. 62v (Detail)

Alle Miniaturen zeigen den reitenden Bileam. In der Handschrift Mgf 516 steht der Engel am Wegesrand und schwingt sein Schwert bedrohlich in die Höhe. Bileam holt mit einer kugelbesetzten Peitsche zum Schlag aus. Aus Angst vor der Qual hat die scheuende Eselin ihren Kopf nach hinten gerissen und ihr Maul wie zum Protest geöffnet.

Ein ganz anderes Bild vermittelt die Miniatur aus Mgf 1108. Auf kleinstem Raum ist dargestellt, wie der Engel die Schnauze der Eselin berührt. Während sich die anderen Darstellungen durch eine dramatische Dynamik auszeichnen, verleihen die vertrauensvolle Geste und der intensive Blickkontakt zwischen Bileam und dem Engel der Szene Intimität. Die Miniatur in Mgf 1108 verdeutlicht die Gottesnähe der Eselin und visualisiert einen späteren Zeitpunkt der Erzählung: Bileam hat seinen Stock bereits gesenkt und erblickt den Engel.

Drei Texte – drei Bilder – drei verschiedene Geschichten?

Die drei Handschriften erzählen Episoden aus dem Alten Testament auf eine je eigene Weise. Auch aus der Geschichte von Bileam und der Eselin werden einzelne Elemente ausgewählt und besonders hervorgehoben:

do ſtuent der Engel mit aynem auſgetʒogen Swert des wiſchte der Eſel aus dem weg in den akcher Do ſlueg Walaam die eſlin an einen engen weg vnd wolte dy pringen auff den ſteig Do lieff dy eſlin ʒwiſſchen die mawrn dy do giengen vmb die weingarten des hueb auf der Engl das ſwert vnd wolde Balaam ſlahen das erſach die Eſlyn vnd hielt ſich an die wannt vnd trukchte walaam den fues das er Im wetet Des ſlueg er aber den eſel Do tratt der Engel in den weg Das die eſlynne nӱndert geweichen macht des viel ſy an die erden des wart Balaam ʒarnig vnd ſlueg ſy mit aynem ſcheyt (Mgf 1413, fol. 77v).

Während Mgf 1413 das dreimalige Scheuen der Eselin und die gewalttätigen Reaktionen Bileams genau schildert, kürzt Mgf 516 diesen Teil der Geschichte und erzählt nur von dem zweiten Schlag gegen die Eselin:

Doe ſtoende der engel gotʒ in deme weigte myt eyme oyſgetʒoigen ſwerde Ind die eyſelynne ſach idt ind ſchreyt tʒo ruggte Ind zo groſſede eme ſynen voyſſ Ind hey wart ʒornich ind ſloich ſy ſere (Mgf 516, fol. 75r).

Allerdings wird dem Dialog zwischen dem wundersam sprechenden Tier und dem daraufhin einsichtigen Reiter in beiden Handschriften recht viel Platz eingeräumt, was sich auch in den Miniaturen zeigt. So bemüht sich die Miniatur in Mgf 1413 darum, möglichst viele Inhalte des zugehörigen Textes abzubilden, und zeigt etwa den Wall, auf den die Eselin zuläuft und hinter dem der Engel mit erhobenem Schwert wartet, während Bileam zum zweiten Schlag ausholt und das Maul des Reittieres bereits zum Protest geöffnet ist. Das Bild aus Mgf 516 verleiht dem Text dagegen eine tiefere Dramatik, indem es die Qual der sich windenden Eselin herausstellt.

Als einzige der drei Historienbibeln betont Mgf 1108, dass der Reiter den Engel zunächst nicht sehen kann:

vnd die Eſlin den enngl̄ ſach den Balaam nicht geſehen hett die vorcht ſich vnd gie aus dem weg (Mgf 1108, fol. 62v).

Umso bemerkenswerter ist es, dass gerade diese Miniatur den sehenden Bileam zeigt. Im Bild wird der Wendepunkt der Geschichte, der im Text nur einen Satz umfasst, deutlich herausgestellt und um ein anschauliches Detail ergänzt: Bileams gesenkten Stab.

Drei besondere Miniaturen

Eine Schlange aus Bronze

Bildwerke können Leben retten. Im vierten Buch Mose (Num. 21, 4-9) heißt es, dass das Volk Israel in der Wüste Hunger und Durst erlitt und gegen Mose rebellierte. Zur Strafe sandte Gott giftige Schlangen. Im Zeltlager brach Panik aus und viele Menschen starben. Doch auf göttliche Weisung hin fertigte Mose eine eherne Schlange. Wer sie anschaute, wurde geheilt:

Doe heiſſche unſe here en up hangẽ eynen eren ſlangen, wer den ansege der wurde geſũt (Mgf 516, fol. 74r/v).

Im Zentrum der Miniatur windet sich eine sehr lebendig erscheinende Schlange um die Balken eines hohen Pfahls. Rechts daneben sind vier Männer in prächtigen Gewändern zu sehen. Jeder von ihnen schaut demütig auf die Schlange, der vorderste hat sogar den Hut abgenommen und kniet nieder. Am auffälligsten ist die Figur ganz hinten, die mit den erhobenen Armen die Gruppe überragt: Es handelt sich um Mose. Links kämpfen drei jämmerlich erscheinende Männer gegen mehrere Schlangen, die sie überall am Körper beißen. Einer hockt, ein anderer liegt tot am Boden, während der dritte hoffnungsvoll zur wundertätigen Bronze kriecht. Die Strafe Gottes wird hier ausdrucksvoll seiner Gnade gegenübergestellt.

Aarons Entkleidung

Der Gott des Alten Testaments ist nachtragend. Aaron zweifelte, ob sein Bruder Mose mit einem Stab Wasser aus einem Stein schlagen könne. Zur Strafe sollte der Hohepriester den Einzug ins gelobte Land nicht mehr erleben. Nun ist es Moses Aufgabe dafür zu sorgen, dass die Kleidung Aarons an Eleasar übergeht:

Do nam moyſes ſein pruede Aaron vnd emploſte In auf dem perge vor allem dem volkch oben auf dem perg (Mgf 1413, fol. 76r).

Die Miniatur stellt den kurzen Augenblick dar, in dem Aaron noch nicht vollständig entblößt ist. Noch sehen wir Mose, wie er seinem Bruder das Gewand von den Armen zieht, doch der hagere Oberkörper Aarons ist schon gänzlich entkleidet. Leicht gebeugt steht der Hohepriester auf einer Anhöhe und blickt frontal aus dem Bild. Rechts hinter ihm sehen wir eine Stadt und einige Bäume, links hinter ihm eine dichtstehende Menschengruppe.

Um die Entkleidung als öffentliches Ereignis darzustellen, ließ sich der Künstler wahrscheinlich von Darstellungen einer weit prominenteren, neutestamentlichen Szene anregen: der Entkleidung Christi.

Eine eigenartige Höllendarstellung

Vor einem ornamentierten Hintergrund spielt sich eine seltsame Szene ab. Zwei Männer füllen mit ihren gekrümmten Körpern die untere Bildhälfte. Ein dritter am linken Rand reißt die Arme in die Höhe und wendet sich dem vierten zu. Dieser wiederum blickt, die Arme seitlich ausgestreckt, auf die anderen herab. Die Zeilen über der Miniatur verraten, dass es hier um den Aufstand der Familienoberhäupter Datan, Abiram und Korach gegen Mose geht (Num 16, 1–35). Das Bild zeigt die Strafe Gottes. Der Boden öffnet sich und sie stürzen in die Hölle hinab:

Do taylt ſich das erdreich vnnder Irn̄ fueſſn̄ vnd verſligkcht ſy mit allem dem das ſy hetten vnd verſengkcht ſy alſo lebentige In die helle (Mgf 1108, fol. 60r).

Bei genauem Hinschauen erkennt man Risse im felsigen Boden. Die beiden vorderen Männer suchen Halt an den Steinen. Die Figur im grünen Gewand steckt bereits mit einem Fuß in der Kluft, während diejenige hinten links fast bis zum Hals versunken ist. Die Grausamkeit des Geschehens wird jedoch nur durch den flammend roten Hintergrund angedeutet, da die Gesichter keine Qual zeigen. Moses, die hinterste Figur, ist der moralische Sieger: Die Anführer müssen sich ihm beugen.

Beteiligte:

Student:innen: Henrike Aschmoneit, Jan Aschmoneit, Daria Coșcodan, Franceso De Naro Papa, Fidel Hennerici, Caroline Herma, Mariette Minnemann, Melanie Noack, Leon Pschierer, Júlia Révay, Orsolya Szender

Dozentin: Prof. Dr. Kathrin Müller

Organisatorinnen des Transkribathons: Nicole Eichenberger, Hedwig Suwelack