Prognostik auf das Jahr 1492. Fragment in der Bibliothek der University of Maryland, College Park

Eine Kiste Buntes

Im Juni dieses Jahres machte Richard Kremer (Dartmouth College) die GW-Redaktion auf einen interessanten Fund aufmerksam. Unter einigen Digitalisaten aus der Bibliothek der University of Maryland in College Park war er auf das Fragment einer astrologischen Prognostik gestoßen, das lediglich aus dem Titelblatt mit einer Textzeile und einem Holzschnitt sowie dem unbedruckten Gegenblatt besteht. Das Fragment trägt den handschriftlichen Eintrag „Schreiber 1930“, wodurch es schnell als Teil der im GW unter Nummer M35172 verzeichneten „Practica auf das Jahr 1492, deutsch“ identifiziert werden konnte. Ob dieser Druck jemals verwirklicht wurde, ist angesichts der Überlieferungslage fraglich. Der einzige weitere bekannte Überlieferungszeuge – ein Fragment in der Staatlichen Graphischen Sammlung in München – besteht ebenfalls nur aus dem Titelblatt und dem unbedruckten Gegenblatt. Ob die inneren Blätter der Lage mit dem eigentlichen Text je gedruckt wurden, ist nicht bekannt.

Derartige Neufunde sind in der Inkunabelbibliographie an sich nicht ungewöhnlich, auch wenn es sich in diesem Fall durch die bislang unikale Überlieferungslage der Ausgabe und dadurch, dass die University Library in College Park bislang noch nicht als Inkunabelbesitzer bekannt war, um eines der interessanteren Fragmente handelt. Doch wie so häufig handelt es sich hierbei nur um die Spitze des Eisberges. Ein Klick auf das Schlagwort „Incunabula–Specimens“ führt zu einer Liste von 36 Digitalisaten, die in vielen Fällen als „Unidentified Fragment“ oder „Unidentified Proof sheet“ klassifiziert sind. Der entsprechende OPAC-Eintrag bezeichnet das unter der Signatur Z240.A1 A1 aufbewahrte Konvolut als „a collection of incunable leaves, including proofsheets, from various European printers. … Various leaves include examples of woodblock illustration, rubrication, proofmarks, and two-color printing. Texts are primarily Latin and German.“ Offenbar dienen die Blätter vor allem als Beispielmaterial für die Druckkunst des 15. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist in jedem Fall der hohe Anteil an Probedrucken, also einseitig bedruckter Abzüge, die in den Offizinen als Korrekturfahnen verwendet wurden.

Schinnagel, Prognostikon 1489

Markus Schinnagel: Prognostikon auf das Jahr 1489, deutsch. [Ulm: Johann Zainer d.Ä.]. (GW M4084320 ). University of Maryland, University Library, Signatur Z240.A1 A1. Quelle: http://hdl.handle.net/1903.1/26389 (public domain).

Über die Herkunft des Konvoluts war die Bibliothek der University of Maryland im Unklaren. Als „acquisition note“ vermerkt der OPAC lapidar „Source unknown. Art Library; Transfer; 1996“. Diese Angabe konnte durch ein weiteres in der Sammlung vorhandenes Fragment etwas präzisiert werden. Das einseitig bedruckte Doppelblatt – offenbar handelt es sich um einen Korrekturbogen – wird in den Metadaten fälschlicherweise als „Practica auf das Jahr 1497“ bezeichnet. Das Fragment selbst beginnt jedoch mit den Worten „Dyse practica Und Judicium hat gemacht der hochgelert maister Marcus Schuinagel Alme vniuersitatis Cracoviensis Anno M cccc lxxxix iar“. Es handelt sich also keineswegs um eine Prognostik für 1497, sondern für das Jahr 1489. Der hier genannte Autor Markus Schinnagel ist der Inkunabelforschung kein Unbekannter; den aktuellen Forschungsstand zu Schinnagel hat Klaus Graf 2014 in einem lesenswerten Blogbeitrag dargestellt. Durch die eindeutigen Angaben des Fragments konnte es ohne größere Probleme als Teil des im GW unter der Nummer M4084320 verzeichneten Prognostikons identifiziert werden – ein in der Bibliographie berüchtigtes Stück, dem Peter Amelung vor mehr als 30 Jahren einen Aufsatz gewidmet hat (Peter Amelung: Eine Ulmer Praktik auf das Jahr 1489. In: Gutenberg-Jahrbuch 1982, S. 211–219). Überraschenderweise erwähnt Amelung in seinem Beitrag auch das betreffende Fragment und weist darauf hin, dass es im Jahr 1971 durch das Antiquariat H.P. Kraus verkauft wurde. Der Katalog „Monumenta xylographica et typographica“ verzeichnet unter Nr. 42 ein Konvolut von „Incunabula Proof Sheets“ und bildet eine Seite des heute in College Park verwahrten Fragments ab. Durch die handschriftlichen Korrektureinträge kann es eindeutig als ein und dasselbe Stück identifiziert werden. Amelung gibt in seinem Aufsatz allerdings fälschlicherweise an, das Fragment befinde sich seit dem Verkauf durch H.P. Kraus im Besitz der Yale University Library. Da sich auch die weiteren in Kraus‘ Katalogeintrag genannten Fragmente heute im digitalisierten Bestand der University Library of Maryland nachweisen lassen, wurde das Konvolut offenbar nicht an Yale, sondern nach College Park verkauft und geriet dort in Vergessenheit.

Nachdem die Herkunft der Fragmente zumindest bis zu Kraus zurückverfolgt werden konnte, wurde in der GW-Redaktion überprüft, aus welchen Ausgaben die Fragmente stammen. Sie konnten zum Großteil identifiziert werden und die entsprechenden Daten wurden nach College Park weitergeleitet und in den GW eingearbeitet. Da hier nicht der Ort ist, alle Ergebnisse en detail darzustellen, soll im Folgenden nur noch ein weiterer wichtiger Fund kurz präsentiert werden:

Registrum zu GW 4208, Bd. 1

Registrum zu Heinrich Eggesteins 3. lateinischer Bibel (GW 4208), Bd. 1. University of Maryland, University Library, Signatur Z240.A1 A1. Quelle: http://hdl.handle.net/1903.1/26391 (public domain).

Die Fragmente Nr 22 und Nr 23 des Konvoluts bildeten offenbar eine Einheit. Beide Blätter sind in derselben Type einseitig in zwei Spalten auf 43 Zeilen bedruckt, und in der Beschreibung der Bibliothek werden beide als „Register leaf from an early Bible“ bezeichnet. Der Terminus „register“ ist hier nicht im Sinne eines modernen Index zu verstehen, sondern als ‚Registrum‘, ein für Inkunabeln typisches Phänomen, das seine Wurzeln in der frühen Druck- und Buchhandelspraxis hat. Anders als bei einem Sach- oder Ortsregister – in Inkunabeln in der Regel als ‚tabula‘ bezeichnet – werden beim Registrum jeweils die ersten Worte eines jeden Doppelblattes in Listenform notiert. Das Resultat ist eine Folge gänzlich aus dem Kontext gerissener Textfragmente. Beim Kollationieren der Lagen waren diese Listen jedoch sehr hilfreich, denn mit ihnen konnten schnell die Vollständigkeit und die korrekte Reihenfolge der Druckbögen überprüft werden. Anders als beim modernen ‚Register‘ handelt es sich beim ‚Registrum‘ also nicht um ein texterschließendes Hilfsmittel für die Leser, sondern primär um ein Hilfsmittel für die Buchhändler und -binder. Die Registra konnten entweder als Teil des Buches am Ende abgedruckt werden (so häufig in italienischen Drucken) oder auf einem separaten Blatt oder Bogen. Im ersten Fall war das Registrum nicht vom eigentlichen Buchblock zu trennen und ist daher in der Regel erhalten. Im zweiten Fall wurden die nach dem Binden nutzlos gewordenen Blätter häufig makuliert und sind daher oft nur unvollständig und unikal oder nur in wenigen Exemplaren überliefert. Dieser zweite Fall liegt auch bei den hier behandelten Stücken vor, und es stellt sich die Frage, für welches Buch die beiden Registra angefertigt wurden.

Registrum zu GW 4208, Bd. 2

Registrum zu Heinrich Eggesteins 3. lateinischer Bibel (GW 4208), Bd. 2. University of Maryland, University Library, Signatur Z240.A1 A1. Quelle: http://hdl.handle.net/1903.1/26392 (public domain).

Die Type, in der die beiden Blätter gedruckt sind, ist typisch für die frühe Inkunabelzeit bis ca. 1475 und konnte mit Hilfe der Proctor/Haeblerschen Methode der Typenbestimmung als Type 4:99G des Straßburger Frühdruckers Heinrich Eggestein identifiziert werden. Da sich die abgedruckten Textstücke auf eine lateinische Ausgabe der Bibel beziehen, lag nahe, dass die Registra für einen der insgesamt drei lateinischen Bibeldrucke Eggesteins (GW 4205, 4206, 4208) angefertigt wurden. Mit Hilfe der online-Digitalisate, die für einen großen Teil der Inkunabeln vorliegen, konnte die unter GW 4208 verzeichnete Ausgabe – die so genannte 41zeilige Bibel Eggesteins – als Quelle für das Registrum identifiziert werden. Dieser dritte Bibeldruck Eggesteins erschien zwar undatiert, kann aber aufgrund eines Rubrikatorvermerks auf „nicht nach dem 8. März 1470“) datiert werden.

Eggestein war einer der frühesten Drucker, der regelmäßig seinen – meist umfangreichen – Drucken ein Registrum beigab. Peter Amelung veröffentlichte im Jahr 1985 einen informativen Aufsatz zu diesem Thema (Peter Amelung: Das Registrum bei Eggestein und anderen oberrheinischen Frühdruckern. In: Gutenberg-Jahrbuch 1985, S. 115-124), der auch einen Zensus der bis dato aufgefundenen Eggestein-Registra enthält. Insgesamt konnte Amelung zu 11 Drucken Eggesteins Lagenregistra nachweisen. Über die Existenz eines Registrums zu GW 4208 konnte zu diesem Zeitpunkt allerdings nur spekuliert werden: In einer Bücheranzeige (GW 9245) bewirbt Eggestein seine 41zeilige Bibelausgabe als „Collationata vero per viros elegantissimos artium humanarum imbutos Registrata equidem, rubricis, versiculis punctis, ut constat omni in parte peroptime compilata“ (Digitalisat der BSB München), wobei sich der Terminus „registrata“ nach Amelungs Deutung auf ein gedrucktes Registrum beziehen muss. Eben dieses, von Amelung nur hypothetisch angenommene, Registrum konnte nun unter den digitalisierten Fragmenten und Probedrucken der University of Maryland nachgewiesen werden!

Es fällt auf, dass das Registrum auf einem kleineren Papierformat als die Bibel gedruckt ist. Mit Abmessungen von ca. 288 x 202 mm entspricht es einem halben Foliobogen im Kanzleiformat (Ausgangsformat des Bogens ca. 420 × 330, abzurechnen ist noch der Beschnitt) . Die Bibel ist zwar ebenfalls als Foliodruck realisiert, aber auf deutlich größerem Papier hergestellt. Das Ausgangsformat des Druckbogens (Doppelblatt) muss mindestens 600 × 400 mm betragen haben, denn im Berliner Exemplar der 41zeiligen Eggesteinbibel (2° Inc 2145.5) sind die Blätter auf 393 × 295 beschnitten.

Die abweichende Papiergröße dürfte der Grund sein, warum das Registrum nicht – wie einige andere Registra Eggesteins – mit den Bänden, auf die es sich bezieht, zusammengebunden wurde. Statt dessen wurden die Blätter offensichtlich als Makulatur verwendet. Die deutlich erkennbaren Klebespuren weisen darauf hin, dass  die Blätter als Schutzblätter in den Buchspiegeln eingeklebt waren. Auf dem Registrum zum 2. Teil der Bibel findet sich der handschriftliche Eintrag „In exposicione sancti johannis crisostomi super matheum etc etc“. Dieser Eintrag dürfte sich auf den Trägerband beziehen, aus dem die Blätter ausgelöst wurden, der demnach eine Auslegung des Johannes Chrysostomus zum Matthäusevangelium enthielt. Sofern es sich beim Trägerband um eine Inkunabel handelte, kommen nur zwei Drucke in Betracht: GW M13306 (Homiliae super Matthaeum. Übers. Georgius Trapezuntius. [Strassburg: Johann Mentelin, nicht nach 1466]) oder M13305 (Opus imperfectum in Matthaeum. Köln: Johann Koelhoff d.Ä., 1487). Der erste, einige  Jahre vor Eggesteins Bibel erschienen und ebenfalls in Straßburg auf Kanzleifoliopapier gedruckt, ist der wahrscheinlichere Kandidat. Ob sich unter den knapp 90 überlieferten Exemplaren dieser Ausgabe noch dasjenige ermitteln lässt,  in das die Blätter eingeklebt waren, ist allerdings zweifelhaft. Dennoch ist bzw. war das Registrum der Eggesteinbibel ein gutes Beispiel für  die ‚Dunkle Materie der Gutenberggalaxie‘: verlorene Drucke, deren Existenz aus anderen Quellen erschlossen werden kann (vgl. Falk Eisermann: The Gutenberg Galaxy’s ‘Dark Matter’: Lost Incunabula, and Ways to Retrieve Them. In: Flavia Bruni/Andrew Pettegree [Hrsg.], Lost Books. Reconstructing the Print World of Pre-Industrial Europe. Leiden: Brill, 2016, Kap. 2 [Reihe Library of the Written Word], im Druck). Und während in der Physik der direkte Nachweis der dunklen Materie noch aussteht, ist er in der Inkunabelbibliographie bereits gelungen.

 

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