Vom „Tanzbären“ zum „Nestor der Inkunabelkunde“. Zur Erinnerung an Konrad Haebler († 13. Dezember 1946)
„In den letzten Jahren meiner Gymnasialzeit wurde ich durch einen Schulkameraden in eine geschlossene Gesellschaft eingeführt, in der wir als Tanzbären sehr freundlich aufgenommen wurden. In diesem Kreise lernte ich eine junge Dame kennen, die die poetischen Namen Carmen Dolores führte und auf der Alhambra in Granada geboren war. Daran entzündete sich meine Phantasie auf das heftigste. Ich stürzte mich mit Begeisterung in Washington Irvings Alhambra tales, las aber bald auch ernstere Bücher über die spanische Maurenzeit und beschloss, diese zu meiner Lebensarbeit zu machen.“ (K. Haebler: Vom spanischen Haebler. Von ihm selbst erzählt. In Antiquariat Zahn und Jaensch. Antiquariatskatalog 348. 1943, S. 1).
Der Bibliothekar Konrad Haebler, der hier im autobiographischen Rückblick die Anfänge seiner ersten wissenschaftlichen Leidenschaft schildert, konnte als adoleszenter Tanzbär noch nicht ahnen, dass ihm bei der Versteigerung seiner Handbibliothek im Jahr 1943 der Ehrentitel „Nestor der deutschen Inkunabelkunde“ beigelegt werden würde. Sein Todestag, der sich heute zum 70sten Mal jährt, soll Anlass sein, an diesen vielseitigen Wissenschaftler zu erinnern, der 15 Jahre seines Berufslebens an der Königlichen Bibliothek zu Berlin – der Vorgängerinstitution der Staatsbibliothek – zubrachte und bis zum Direktor der Handschriftenabteilung aufstieg.
Haebler, der am 29. Oktober 1857 in Dresden geboren wurde und dort die Kreuzschule besuchte, studierte in Leipzig Geschichte und Philologie. 1882 promovierte er dort, ganz seinem Interesse für die spanische Geschichte folgend, mit einer Arbeit über „Den Streit Ferdinands des Katholischen und Philipps I. um die Regierung von Castilien 1504-1506“. Auch in den folgenden Jahren beschäftigte sich Haebler, der seit 1879 an der Königlichen Bibliothek in Dresden angestellt war und dort nach eigener Aussage viel Zeit für seine wissenschaftliche Arbeit hatte, überwiegend mit der spanischen Geschichte, bevor er auf Umwegen zur Inkunabelkunde gelangte. Während der Vorarbeiten zu einer Publikation über die Wirtschaftsgeschichte Spaniens („Die wirtschaftliche Blüte Spaniens im 16. Jahrhundert und ihr Verfall“, 1888) stieß Haebler auf zahlreiche Drucker und Verleger im Spanien des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Die daraus resultierenden Arbeiten zum frühen Buchdruck in Spanien, u.a. die zweibändige „Bibliografía Ibérica del siglo XV“ (1903-1917) qualifizierten ihn nachdrücklich für die ab 1898 laufende Erfassung der Inkunabelbestände der Königlichen Bibliothek zu Dresden.
Aufgrund seiner profunden druckhistorischen Kenntnisse und der bei der Inkunabelkatalogisierung in Dresden gesammelten Erfahrungen wurde Haebler schließlich 1904 zum Vorsitzenden der neu gegründeten „Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke“ (GW) an der Königlichen Bibliothek in Berlin berufen. Das Ziel des GW war die vollständige Erfassung aller weltweit nachweisbaren Inkunabelbestände, um so das unvollendet gebliebene „Repertorium Bibliographicum“ Ludwig Hains und dessen Ergänzungen durch ein nach einheitlichen Standards gearbeiteten Nachschlagewerk zu ersetzen.
Die Wiegendruckkommission, deren Zusammensetzung wie ein who’s who der Inkunabelkunde des frühen 20. Jahrhunderts anmutet (neben Haebler auch Konrad Burger, Ernst Voulliéme, Adolf Schmidt, Ernst Freys und Isak Collijn) sammelte in den Jahren 1904 bis 1914 etwa 40.000 handschriftliche Inkunabelbeschreibungen. Der von der Kommission entwickelte Standard für die Beschreibungen war sehr hoch und orientierte sich eher an der Beschreibung von Handschriften als an der bibliographischen Erfassung moderner Druckwerke. Neben den bibliographischen Grunddaten werden auch Angaben zu Lagenzusammensetzung, Buchschmuck, Drucktypen sowie ausführliche Transkriptionen relevanter Textstellen verzeichnet.
Die Überarbeitung der Manuskriptzettel zur Drucklegung nahm (und nimmt) dementsprechend einige Zeit in Anspruch, der erste Band des GW erschien erst nach Haeblers Pensionierung im Jahr 1925. Die – durch die beiden Weltkriege und die wirtschaftlichen Engpässe der DDR-Zeit stark verzögerte – Drucklegung dauert bis heute an, ergänzend sind die Daten des GW seit 2003 auch online verfügbar.
Haeblers größtes Verdienst um die Inkunabelkunde ist allerdings ein methodisches ‚Seitenprodukt‘ seiner Arbeiten in Dresden und am GW: das sechsbändige „Typenrepertorium der Wiegendrucke“ (1905-1924). Bereits in seinen Arbeiten zum spanischen Frühdruck hatte Haebler sich die von Jan Willem Holtrop, Henry Bradshaw und Robert Proctor entwickelte Methode angeeignet, durch stilistische Analysen und Vergleiche der benutzten Drucktypen die Urheber unfirmierter Inkunabeln zu identifizieren. In seinem Typenrepertorium, dessen ersten Band er nach eigenen Aussagen noch während der Dresdener Inkunabelkatalogisierung in seiner Freizeit zusammenstellte, formalisierte er die typographische Methode, indem er neben dem Maß der Kegelhöhe (auf 20 Zeilen gemessen) die Form des Majuskel-M (bei gebrochenen Schriften) bzw. des Qu (bei Antiquatypen) als Klassifizierungsmerkmale zugrundelegte. Seine für das Typenrepertorium erarbeitete Tafel der M-Formen umfasst über 100 verschiedene in den Inkunabeltypen belegte Varianten dieses einen Buchstabens. Mit dieser Formalisierung sollte es vor allem auch möglich werden, ohne direktes Vergleichsmaterial die Typen bestimmen zu können. Auch wenn durch die Digitalisierungskampagnen der letzten Jahre umfangreiches Vergleichsmaterial inzwischen leicht zugänglich ist, bietet die Suche nach M-Form und Kegelhöhe im Typenrepertorium bis heute den wichtigsten methodischen Einstieg bei der Zuweisung unfirmierter Inkunabeln. Die Daten des Typenrepertoriums sind seit 2013 digital als Online-Datenbank verfügbar, doch ist das in den Redaktionsräumen verwahrte Handexemplar des Typenrepertoriums, das von mehreren Generationen von GW-Mitarbeiter/innen handschriftlich annotiert wurde, in kniffligen Fällen der Typenidentifikation immer noch ein unersetzliches Hilfsmittel für die Arbeit am GW.
Nach seiner Pensionierung fasste Haebler seine profunden druckgeschichtlichen Kenntnisse im „Handbuch der Inkunabelkunde“ (1925) zusammen und brachte das biographische Nachschlagewerk „Die deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts im Auslande“ (1924) heraus. Daneben widmete er sich verstärkt der Einbandkunde („Rollen- und Plattenstempel des 16. Jh.“, 1928 f.) und auch seiner wissenschaftlichen Leidenschaft für die Geschichte Spaniens.
Vor genau 70 Jahren, am 13. Dezember 1946, verstarb Konrad Haebler im Alter von 89 Jahren in Wehlen bei Dresden. Ein Artikel über Haeblers Beziehungen zu Spanien mit dem Titel „Konrad Haebler y España en el Archivo del Gesamtkatalog der Wiegendrucke“ aus der Feder von Marta Torres Santo Domingo, der Direktorin der Biblioteca Histórica, Universidad Complutense de Madrid, erscheint demnächst in der Online-Zeitschrift „Pecia Complutense“.
Thank you for remembering the „titan“ Konrad Haebler! (From Haebler’s reminiscence of schooldays one senses that Carmen Dolores must have been „poetic“ in more than just her name …). As a personal opinion: Haebler’s Handbuch der Inkunabelkunde seems to me to be a minor production, and in bibliographical matters often incorrect. On the other hand, his Die deutschen Buchdrucker des XV. Jahrhunderts im Auslande (which is also a beautifully produced work) is a masterpiece that has not been superseded.