Kreuz und Que(e)r Exkurs: Mistresses and Mates – queere Literatur aus Australien und Neuseeland

Ein Beitrag von Dr. Jochen Haug, Leiter der Wissenschaftlichen Dienste und Stellvertretender Leiter der Benutzungsabteilung

Unser Blog zum Pride Month bleibt global: Vor einigen Tagen ging es nach Korea, heute wenden wir uns in Richtung Down Under, nach Australien und Neuseeland –  einer Weltgegend, die außer dem traditionsreichen Sydney Mardi Gras, dem ikonischen Silberlamé-Stöckelschuh aus Priscilla, Queen of the Desert und einer Handvoll trashiger Beiträge zum Eurovision Song Contest auch eine beeindruckende queere Literaturtradition vorzuweisen hat. Selbige gäbe Stoff für ungefähr 20 oder 30 Blogbeiträge, wir können und wollen hier nur in einer äußerst subjektiven Auswahl auf einige wenige Einstiegspunkte hinweisen.

Fangen wir mit Australien an; Die nicht-indigene, also europäisch-kolonial geprägte Literaturtradition ist relativ jung (erst im späten19. Jahrhundert nimmt sie nennenswert Formen an) und vermittelt in ihren Anfängen ein fast schon klischeehaft klassisches, heteronormatives Männlichkeitsideal: Kernige, ungewaschene Mannsbilder fristen ein karges Dasein im unwirtlichen Outback, reden dabei nicht viel (schon gar nicht über Gefühle), schlagen einander herzhaft auf die Schulter und sitzen abends nachdenklich am Feuer. Dabei entsteht dann doch so etwas wie Nähe, und die Grenzen zwischen platonisch-maskuliner Mateship und erotischem Begehren verschwimmen. Der dominierende australische Autor des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Henry Lawson, trug nicht nur einen beeindruckenden Schnauzbart, sondern war auch, wie neuere biographische Studien zeigen, bisexuell – eine der ersten der diversen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten, die das maskulin dominierte australische Literaturnarrativ kennzeichnen. Lawsons Kurzgeschichten und Gedichte, wie „The Drover’s Wife“ und „Brighten’s Sister-in-Law“, die sehr ungeschminkt und ohne jeglichen rhetorischen Schnickschnack daher kommen, lesen sich übrigens auch heute noch unterhaltsam, spannend und fast modern – wer Hemingway mag, wird auch mit Lawson froh werden.

Henry Lawson, Briefmarke, 1949.

Ein Sprung in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bringt uns zu Patrick White, vielleicht dem klassischen australischen Autor schlechthin und einzigen Literaturnobelpreisträger des Landes. White, ein offen schwuler Mann in einer homophoben Zeit (auch in Australien wurden homosexuelle Lebensweisen erst in den 1970ern und 80ern entkriminalisiert), war allem Anschein nach eine komplexe Persönlichkeit, und auch seine Romane, in denen es von queeren Figuren und queeren Subplots nur so wimmelt, sind nicht gerade leichte Lektüre. Empfohlen seien hier trotzdem Voss (1957), ein grandioses Abenteurer- und Entdecker-Epos über das Scheitern maskulinen Dominanzdrangs, Riders in the Chariot (1961), eine wüste und düstere, dabei aber durchaus fesselnde Suburbia-Saga über unerfülltes Begehren und (hetero- und homo-)sexuelle Gewalt, und vor allem The Twyborn Affair (1979), ein skurriler postmoderner Historienschinken, deren Protagonist:in, eine Transperson namens Eudoxia Vatatzes (sic) alias Eddie Twyborn umstandslos die Gender-Identitäten wechselt: Sie tritt ins Leben als verzärtelte französische Society-Lady, ist dann im Ersten Welktrieg Soldat an der ANZAC-Front und verbringt schließlich ihre späten Jahre als Bordellbetreiberin in London. Wem an diesem Punkt noch nicht die Sinne schwinden, der sollte sich auch noch Whites sehr lesenswerte Autobiografie Flaws in the Glass (1981) zu Gemüte führen, um das Bild abzurunden.

Von der Fülle neuerer queerer australischer Literatur können hier nur ein paar wenige (komplett willkürlich ausgewählte) Highlights herausgepickt werden. Empfehlenswerte Romane queerer Autorinnen und/oder mit queeren Plots sind Melissa Lucashenkos Too Much Lip (2018), über eine selbstbewusste junge indigene Frau, die aus ihrer verarmten Chaos-Familie ausbricht; The Performance (2021) von Claire Thomas, über drei queere Frauen, die versuchen, eine Jubiläums-Inszenierung von Samuel Becketts mühsamem Stück Happy Days in Melbourne zu überstehen; oder die Romane Nest (2014) und Where the Trees Where (2016) der lesbischen Biologin und Autorin Inga Simpson, in denen eindrückliche und starke Frauenfiguren in einem fast schon metaphysischen Einklang mit einer ungezähmten Natur agieren. Genannt sei am Schluss auch noch der griechischstämmige schwule Autor Christos Tsiolkas, dessen kurzweilige und trotzdem subtile Coming-of-Age-Romane Loaded (1995) und The Slap (2008) durch ihre jeweiligen Verfilmungen eine recht große Breitenwirkung erzielt haben.

Man könnte hier noch lange weitermachen, aber wir wechseln flugs hinüber nach Neuseeland, in der Maori-Sprache Aotearoa genannt, das Land der langen weißen Wolke. Auch in der klassischen neuseeländischen Literatur ist Mateship ein dominierendes Motiv – es geht überwiegend um einsame, schweigsame Männer, die zwischen Schafherden und grünen Hügeln rastlos ihre Kreise ziehen; nur ganz gelegentlich, etwa in Jane Manders The Story of a New Zealand River (1920), taucht auch einmal eine (nicht ganz so einsame) starke Frauenfigur auf. Ein Autor, der von Zeitgenossen als Vaterfigur für die neuseeländische Literatur betrachtet wurde, ist Frank Sargeson (1903-1982); Sargesons Homosexualität wurde, obwohl er offen in einer Langzeitpartnerschaft mit dem pensionierten Pferdewirt Harry Doyle lebte, erst durch eine 1995 veröffentlichte Biografie einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Sargesons Erzählungen sind wie diejenigen Henry Lawsons kurz und sehr schnörkellos, aber in ihrer subtil angedeuteten Darstellung queerer Identitäten und homoerotischer Subtexte zugleich sehr kunstvoll; der Novelle „That Summer“ (1943) etwa, über die liebevolle, sinnliche (und natürlich tragisch endende) Freundschaft der beiden Tagelöhner Bill und Terry und ihre Transgender-Nachbarin Maggie, gelingt in ihrer wortkargen Knappheit tatsächlich ein profundes emotionales Statement. Sargesons spätere Romane hingegen lesen sich in ihrer überkandidelten, gewollten Artifizialität wie schlecht gemachte Gore-Vidal-Persiflagen: besser die Finger davon lassen und stattdessen lieber noch ein paarmal Priscilla oder Muriel’s Wedding schauen.

„Frank Sargeson and Harry Doyle at Frank Sargeson’s bach, Esmonde Road, Takapuna, Auckland. Cole, John Reece :Negatives and prints mostly relating to New Zealand literary personalities. Ref: 1/4-027776-F. Alexander Turnbull Library, Wellington, New Zealand. /records/22772896“ (Quelle: https://natlib.govt.nz/records/22772896)

Der erste neuseeländische Roman mit einem explizit queeren Plot war James Courages A Way of Love (1959): Der ältere Bruce verliebt sich in den jüngeren Philip, beide plagen sich mit den restriktiven Moralvorstellungen (und Gesetzgebungen) der späten 1950er und suchen Zuflucht in szenigen Partys, auf denen sie mit viel Wortwitz Konversation mit anderen queeren Menschen pflegen, die sich ebenfalls an den Rand der Gesellschaft gedrängt sehen. Der Roman, der nach Erscheinen in Neuseeland auf dem Index landete, ist ein Produkt seiner Zeit, aber auch heute noch durchaus lesbar. Interessanterweise stammt auch der oft als „The Great New Zealand Novel“ schlechthin gepriesene, epochale Roman Coal Flat (1963) von Bill Pearson, eine fesselnde und wendungsreiche Small-Town-Saga, von einem schwulen Autor – auch wenn queere Themen in diesem Text nur eine Nebenrolle spielen.

Spätestens seit den 1970er Jahren sind Texte von sich als Maori identifizierenden Autor:innen von zentraler Bedeutung in der neuseeländischen Literatur. Witi Ihimaera, dessen Roman The Whale Rider (1987) durch eine Big-Budget-Verfilmung 2002 so bekannt wurde, dass es heute der am meisten übersetzte neuseeländische Roman überhaupt ist, ist eine in Neuseeland überaus präsente Figur – nicht nur als Autor, sondern auch als Diplomat, Public Intellectual und Aktivist. Nach einem späten und sehr öffentlichkeitswirksamem Coming-Out thematisierte Ihimaera ebendieses in seinem 1995 veröffentlichten, sehr lesenswerten autobiographischen Roman Nights in the Gardens of Spain, und auch sonst lohnt sein umfangreiches Werk, in dem es natürlich auch ganz wesentlich um Neuseeland als postkoloniale Gesellschaft geht, die Beschäftigung absolut. Prägend für Ihimaera war, wie für alle zeitgenössischen schwulen Autoren, außerdem die Aids-Krise der 1980er und 1990er; sein poetisches Libretto Waiata Aroha findet sich in der Anthologie Best Mates (1997), die einen schönen – und schön gestalteten – Überblick über männliches queeres Schreiben in Neuseeland bietet.

Das wahrscheinlich spektakulärste literarische Ereignis der neueren neuseeländischen Literatur war die Veröffentlichung des mehr oder weniger autobiographischen Romans the bone people (1984) der sich als asexuell identifizierenden Autorin Keri Hulme. the bone people wurde als erster Debütroman überhaupt mit dem renommierten Booker Prize dekoriert; um ihn genussvoll lesen zu können, bedarf es allerdings viel Ruhe, Tee und allergrößter Konzentration. Mit seinem Mix aus Prosa und Lyrik und seiner vielschichtigen Transponierung traditioneller neuseeländischer Mythen und Rituale in die Jetztzeit ist der Roman mitunter recht schwergängiger Stoff – aber die Mühe lohnt sich definitiv. Hulme entpuppte sich übrigens als eine Art Solitär:in in der neuseeländischen Literatur (um den Begriff One-Hit-Wonder zu vermeiden): Nach the bone people kamen noch ein paar Erzählungen und Lyrikbände und sonst nicht mehr viel.

Keri Hulme, 1985.

Hinsichtlich der lesbischen Literaturtradition Neuseelands stößt der Autor an die Grenzen seiner Kenntnisse; bis sich dies ändert, sei mit Blick auf die aktuelle lesbische Literaturszene in abschließend noch auf die umfangreiche und gut gepflegte Linkliste von LILAC, dem Lesbian Information, Library and Archive Centre in Wellington hingewiesen – Podcast, literarische Online-Texte, Rezensionen und vieles mehr geben einen guten Eindruck vom aktuellen Stand der Dinge.

In den Beständen der Staatsbibliothek sind die anglophonen Literaturen Australiens und Neuseelands (aber auch Kanadas, Asiens und Afrikas) sehr breit vertreten, außer allen hier genannten Texten finden Sie noch unendlich viele mehr. Bleiben Sie also dran – wir freuen uns auf Sie.

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