Matthias Brandt liest aus „Raumpatrouille“

Am Abend des 4. Oktober 2017 las Matthias Brandt im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek aus seinem Buch „Raumpatrouille“. Einleitend führte ich aus:

Verehrter, lieber Herr Brandt,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde der Staatsbibliothek,
lieber André Schmitz,

in den kommenden Minuten werde ich etwas tun, was sich eigentlich nicht gehört, was man tunlichst unterlässt und was nicht überall gern gesehen ist: Ich begrüße den Sohn und spreche über den Vater. Aber Sie alle mögen mir dies bitte verzeihen, denn ich habe gar keine andere Wahl. Selbstverständlich, mir ist das Problem nur zu bewusst: die Söhne und Töchter großer Frauen und Männer wollen – und müssen – sich emanzipieren, sich durch eigene Leistung befreien aus der ‚Umklammerung‘; und vor allem die künstlerisch agierenden Söhne oder Töchter großer Eltern wollen Werke schaffen aus der Kraft der individuellen Autarkie heraus. Man will, sehr zu recht, als eigene, autonome Größe gelten und nicht über Jahrzehnte hinweg nur oder zumindest überwiegend über die Familienbande definiert werden.
Sehr geehrter Herr Brandt, ich verstehe dies. Doch verstehen Sie bitte auch mich, denn was ich nun gleich zitieren werde, ist zu ergreifend und zu authentisch und zu eng mit dieser Bibliothek verbunden, als dass es unausgesprochen lassen könnte.  Denn während Sie heute Abend im jüngeren der beiden großen Häuser der Berliner Staatsbibliothek zu Gast sind, war es Ihr Vater in den dreißiger Jahren in unserem Stammhaus Unter den Linden; und seine Schilderungen jener Tage möchte ich Ihnen nicht vorenthalten, um damit zugleich Sie, lieber Herr Brandt, auf das Herzlichste zu begrüßen. Ihr Vater schrieb also in seinen autobiographischen Werken:

 

„Die zweite Hälfte des Jahres 1936 verbrachte ich in Berlin. Ich wohnte in Untermiete bei einer liebenswürdigen Frau Hamel am Kurfürstendamm 20, als norwegischer Student Gunnar Gaasland camoufliert und mit einem entsprechenden Paß versehen. Ich war gebeten worden, mich unserer Berliner Widerstands-Organisation zur Verfügung zu stellen, und ich bereute es nicht, die deutsche Wirklichkeit im ‚Dritten Reich‘ unmittelbar miterleben zu können. Jedoch will ich nicht verhehlen: ich war nicht frei von Furcht, als ich mit dem Nachtzug von Paris nach Berlin fuhr, oder vorher, als ich von Gedser nach Warnemünde eingereist war. Die Arbeit in Berlin, die sich immerhin auf mehrere hundert politische Freunde erstreckte, blieb in ihrer praktischen Wirksamkeit natürlich stark begrenzt.
Die große Stadt, der gegenüber ich früher eine Scheu empfunden hatte, kam mir jetzt sehr nahe. Ich begegnete prächtiger Gesinnungstreue bei manchen Berlinern, denen ich mich natürlich nicht offenbaren konnte, eine natürliche Hilfsbereitschaft und jene ‚Schnauze mit Herz‘, die sich auch durch die Nazigrößen nicht unterkriegen ließ. Natürlich mußte ich sehr einfach leben, aber es machte Spaß herauszufinden, wo es mittags für wenig Geld reichlich zu essen gab. Die Vormittage in der Preußischen Staatsbibliothek und mancher Abend bei den Philharmonikern brachten mir viel Gewinn. (aus: Draußen. Schriften während der Emigration. München: Kindler 1966, S. 67-68)

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Zu meiner Legalisierung gehörte, daß ich mich als Ausländer bei der Polizei zu melden hatte. Weiter, daß ich mir die Erlaubnis holte, in der Preußischen Staatsbibliothek arbeiten zu können. Weiter, daß ich mir einen Monatswechsel aus Norwegen als – billige – „Studienmark“ überweisen ließ. Und nicht zuletzt, daß ich mich konsequent daran hielt, Deutsch mit norwegischem Akzent zu sprechen.
In der Staatsbibliothek war es nicht schwer, eine Karte für regelmäßigen Zugang zu erhalten, und ich arbeitete dort jeden Vormittag. Allerdings blieb für eigentliche Quellenarbeit zur Geschichte des vorigen Jahrhunderts nicht viel Zeit. Ich ließ mir vor allem die NS-Literatur von Hitler über Rosenberg bis Darré kommen und machte mir fleißig Auszüge. Damit gebe ich zu, daß ich zu den vielen gehörte, die Hitlers ‚Mein Kampf‘ nicht gelesen hatten.“ (aus: Links und frei. Mein Weg 1930-1950, Hamburg: Hoffmann und Campe 1982, S. 174-175)

 

Lieber Herr Brandt, als ich heute Vormittag im Haus Unter den Linden der Staatsbibliothek war, sah ich in Gedanken Ihren Vater den Springbrunnen im Hof umrunden und auf den Eingang zusteuern… – 80 Jahre sind diese Vorkommnisse nun vergangen, und sie sind in all ihrer Tragik und Dramatik Teil der deutschen Geschichte, Teil unser aller Geschichte.
Heute sind Sie zu Gast in der Staatsbibliothek – und so fügt sich, um Ihren Vater ein letztes Mal zu zitieren, zusammen, was zusammen gehört. Ihnen allen wünsche ich einen anregenden Abend – vielen Dank und führen nun bitte Sie, lieber André Schmitz, uns inhaltlich in das Werk von Herrn Brandt ein! Vielen Dank.

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