Unsichtbare Freundinnen von einst

Unsichtbarkeit weiblicher Persönlichkeiten aus früheren Jahrhunderten wird allenthalben beklagt. Hier soll es nun aber um ein Metier gehen, dessen männliche Vertreter in ähnlicher Weise unzureichend wahrgenommen werden: das Übersetzen.

Wer aufmerksam unser Blog verfolgt, weiß jetzt: Dieser Artikel ist dem Hieronymustag gewidmet, mit dem der VdÜ den Internationalen Übersetzertag am 30. September begeht.

Vorgestellt werden soll heute ein gedrucktes Werk, das Lexikon der deutschen Übersetzerinnen 1200‑1850,  erschienen 2018. In der SBB ist es in unserem Historischen Forschungslesesaal Unter den Linden (HA 5 Ak 2800) konsultierbar.

184 Frauen werden in dem Band vorgestellt. 1200‑1850 soll den Zeitraum vom späten Mittelalter bis zur einsetzenden Industrialisierung abdecken. Konkret beginnt der zeitliche Rahmen mit der ältesten nachgewiesenen Übersetzerin: Hiltgart von Hürnheim mit ihrer Übersetzung von Secretum Secretorum ins Deutsche aus dem Jahr 1282. Die Jahresangabe 1200 im Titel  ist also sehr großzügig angesetzt. Am anderen Ende geht es bis zu Übersetzerinnen, die bis zum Jahr 1830 geboren wurden. Die letzte von ihnen starb 1925 (Marie Ansen‑Taylor), die letzten beispielhaft aufgenommenen Übersetzungen stammen von 1898 (eine Übersetzung von Richard Voss‘ Der neue Gott  ins Englische durch Mary Robinson) bzw. 1895‑1903 (Habbels 60-bändige Romanbibliothek mit Übersetzungen von Karoline Berlepsch (1829‑1899)). Über das Jahr 1850 geht der Inhalt also sogar deutlich hinaus.

Aufgenommen wurden alle Frauen, von denen mindestens eine Übersetzung nachgewiesen werden konnte – nicht nur veröffentlichte, sondern auch handschriftlich überlieferte unveröffentlichte und sogar indirekt belegte Übersetzungen, unter Einschluss von Nachdichtungen und freien Bearbeitungen, sind berücksichtigt. Um eine Vollständigkeit anstrebende Bibliografie der Übersetzungen handelt es sich jedoch nicht: pro Person werden (ggf.) 5 repräsentative Titel von Übersetzungen angeführt. Denn es geht um die Personen: Hauptanliegen des Lexikons ist es, wie in der Einleitung verlautet, die thematische Breite der Übersetzungen sichtbar zu machen und die Kontinuität des Wirkens von Frauen in der Übersetzungsgeschichte herauszuarbeiten, ihre Netzwerke aufzuzeigen. Fazit:

„Frauen waren umfassender am Kultur- und Wissenstransfer und dem Entstehen von Deutschland als Kulturnation beteiligt, als gemeinhin angenommen.“

– Geahnt haben wir das natürlich schon längst.

Welche Art Texte wurden nun (von Frauen) übersetzt? Hierüber gibt die fundierte Einleitung einen kleinen chronologisch orientierten Überblick. Neben Literatur, deren Übersetzung – allen voran die von Romanen  – relativ besser erforscht ist, sind es naturwissenschaftliche, medizinische, archäologische, sprachwissenschaftliche, philosophische und natürlich religiöse Werke und solche politischen Inhalts. Bücher sind besser dokumentiert als Essays und Zeitungsartikel, das ist erst recht so bei Übersetzungen. Auch theoretische Überlegungen zum Übersetzen haben die Übersetzerinnen in Vorworten, Anmerkungen oder separaten Veröffentlichungen dargelegt.

In der Einleitung geht die Autorin des Bandes, Elisabeth Gibbels, außerdem systematisch auf die Schwierigkeiten beim Ermitteln von Übersetzungen, und insbesondere denen von Frauen, ein und schildert, welche entlegenen, zum Teil unerschlossenen Quellen herangezogen wurden – nicht nur Tagebücher und Briefe, sondern auch Bücherkataloge, Mitgliederlisten, Nachrufe; ja sogar Nachlässe wurden durchgesehen.

Auch über die Sprachen, aus denen zu verschiedenen Zeiten übersetzt wurde, gibt sie einen groben Überblick. Konkrete Informationen hierzu lassen sich aus den einzelnen Lexikonartikeln herausfiltern: Natürlich aus dem Lateinischen, wofür schon das Beispiel der ältesten Übersetzung steht, und auch aus dem Griechischen. Sehr viel aus dem Französischen, Italienischen, Englischen, weniger aus dem Spanischen. Auch die skandinavischen Sprachen und die anderen germanischen Sprachen sind vertreten, von den slawischen Sprachen das Russiche am häufigsten und nur vereinzelt andere (polnisch, tschechisch, serbisch). Überetzungen aus dem Hebräischen erklären sich aus der kulturellen Sozialisation vieler gebildeter Frauen, überraschen mögen eher Überetzungen aus dem Ungarischen, Albanischen und Arabischen. Vereinzelt sind auch Übersetzungen aus dem Deutschen in andere Sprachen verzeichnet, und auch solche ohne Deutsch als Ausgangs- oder Zielsprache (russisch-englisch, französisch-englisch).

Die Artikel sind übrigens, dem Lexikoncharakter des Bandes entsprechend, alphabetisch geordnet. Im Schlussteil des Buches gibt es eine nach Geburtsjahr geordnete chronologische Übersicht mit Angabe der Lebensdaten, die zwar nicht auf die Seite im Lexikonteil verweist, den Personenartikel aber in der alphabetischen Abfolge leicht auffindbar macht. Es folgt eine alphabetische Übersicht, die – ohne eigentlichen Mehrwert – die Seite des Artikels bzw. der Verweisung angibt, allerdings nicht die Lebensdaten nennt. Schade, das hätte den Wert dieser Liste deutlich erhöht.

Jeder Artikel enthält Geburts- und Sterbejahr, die verschiedenen Namen(sformen) und Pseudonyma und die Sprachen, aus welchen (und ggf. in welche) Übersetzungen ermittelt wurden. Es folgen einige Sätze zur übersetzerischen Tätigkeit – zum einen, Werke welcher Art übersetzt wurden, zum anderen eine Einordnung in die Kulturgeschichte des Übersetzens. Sonstigen Tätigkeit werden anschließend thematisiert – häufig sind dies Autorschaften, aber auch die gesellschaftliche Stellung und sonstige Verdienste. Beziehungen zu anderen Personen werden bisweilen genannt, vor allem zu solchen, die ebenfalls in diesem Lexikon vertreten sind. Schließlich kommen wieder ganz konkrete Angaben: (max.) 5 Titel von Übersetzungen, wobei auf die Nennung des fremdsprachigen Originaltitels und dessen Erscheinungsjahr verzichtet wird, und abschließend Literaturhinweise – hier wird vermutlich auf die Quellen für die jeweiligen Artikel verwiesen, die im mit ca. 300 Titeln sehr umfangreichen Literaturverzeichnis, das den vorliegenden Band krönt, zusammengestellt sind.

Die Beschränkung der biografischen Angaben auf die Lebensjahre lässt Hinweise auf Herkunfts- und Wirkungsorte vermissen, die hinsichtlich der kulturhistorischen Einordnung der Personen durchaus zweckdienlich wären. Bemerkenswert konsequent ist der Verzicht auf die direkte Nennung von Verwandtschaftsverhältnissen und Familienzugehörigkeiten. So bedauerlich der oft größere Bekanntheitsgrad der Ehemänner, Väter, … auch sein mag, hätten solche Hinweise jedoch ebenfalls zu der angestrebten Kontextualisierung beigetragen.

Dabei ist es keinesfalls so, dass man in dem Lexikon auf keine bekannten Namen stößt! Nur werden uns die meisten Frauen nicht als Übersetzerinnen, sonder aus anderem Kontext ein Begriff sein. Einige Beispiele – natürlich in rein subjektiver Auswahl:

Johanna Spyri ist als Schöpferin der „Heidi“  allgemein bekannt, hat aber auch einen französischen Roman übersetzt.
An Charlotte von Stein kommt man bei der umfassenden Beschäftigung mit Johann Wolfgang von Goethe kaum vorbei; der Lexikonartikel über sie als Übersetzerin aus dem Englischen kommt ohne die Nennung seines Namens aus.
Anna Amalie, Herzogin von Sachen-Weimar-Eisenach, lebt im Namen der von ihr maßgeblich geförderten Weimarer Bibliothek fort, der heutigen Herzogin Anna Amalia Bibliothek; ihre vielfältigen Übersetzungen aus dem Englischen, Griechischen und Italienischen sowie ins Italienische bleiben meist unerwähnt.
Dorothea von Erxleben war in der bundesdeutschen Alltagskultur der 80er und 90er Jahre sehr präsent: Ihr Porträt trägt die 60‑Pfennig-Briefmarke der Dauermarkenserie „Frauen der deutschen Geschichte“, welche Ehre ihr als Ärztin zuteil wurde. Sie übersetzte ihre lateinische medizinische Dissertation ins Deutsche.
Die Einzige, die im Brockhaus als nichts anderes als als „Übersetzerin“ firmiert, ist Dorothea Tieck. Ihre maßgebliche Beteiligung an der Schlegel-Tieckschen Shakespeare-Übersetzung ist in Fachkreisen durchaus bekannt; dass sie dazu durch ihren Vater Ludwig Tieck kam, verrät der ihr gewidmete Artikel dann doch.

Schließlich noch zwei weniger geläufige Namen, die mir an der Staatsbibliothek begegnet sind:
Johanna Kinkel war Gegenstand eines Stipendienprojektes, das im Jahr 2015 im Rahmen des Stipendienprogramms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz an der Staatsbibliothek zu Berlin gefördert wurde (Johanna Kinkels Rolle in der Berliner Öffentlichkeit).
Sophie Friederike Krickeberg können wir zur Zeit in der Ausstellung Unheimlich Fantastisch – E.T.A. Hoffmann 2022 begegnen. Dort ist ein kurzer Briefwechsel von ihr mit E.T.A. Hoffmann als Chat wiedergegeben. Den führte sie natürlich nicht als Übersetzerin, sondern als Schauspielerin.

 

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