Osteuropäisches Leben und Erleben im Spiegel der schönen Literatur – aktuelle osteuropäische Neuerwerbungen

Im September/Oktober 2022 stellen wir in unserer Vitrine der Neuerwerbungen vor dem Osteuropa-Lesesaal Belletristik aus. Bei der Auswahl haben wir den Fokus auf kommentierte, bilinguale und illustrierte Ausgaben neuer, neu edierter, neu entdeckter sowie übersetzter Werke osteuropäischer Schriftsteller:innen gelegt.

Neben Erwerbungen wissenschaftlicher Veröffentlichungen aus und über Osteuropa betrachten wir – nicht nur im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Fachinformationsdienstes, kurz FID, Slawistik – die Auswahl schöner Literatur aller Genres als wichtiges Element unseres Bestandsaufbaus. Primär liegt das Augenmerk für uns auch in diesem Bereich auf originalsprachigen Texten. Doch deutsche Übersetzungen sind im Bestand der Staatsbibliothek ebenfalls zahlreich vertreten. Natürlich freuen wir uns über Sie als interessierte Leser:innen dieser Literatur, die so für Sie, auch wenn Sie die Originalsprache nicht beherrschen, erlebbar wird.

Den Übersetzungen kommt aber durchaus auch eine wissenschaftliche Relevanz zu, wenn wir zum Beispiel an rezeptionsgeschichtliche und translatorische Fragestellungen denken.

Folgende Werke möchten wir Ihnen vorstellen:

Melʹnyk, Jaroslav: Der weite Raum : Roman.
Aus dem Litauischen von Markus Roduner.
Berlin : KLAK, 2021. – 333 Seiten. ISBN 978-3-948156-44-2.

Signatur: 10 A 144042

Jaroslav Melnik (Ukrainisch: Ярослав Мельник [Jaroslav Mel’nyk], Litauisch: Jaroslavas Melnikas), geboren 1959 in der Ukrainischen SSR, ist ein ukrainisch-litauischer Schriftsteller, Philosoph und Kritiker, der in seinen Romanen und Kurzgeschichten Science-Fiction mit aktuellen philosophischen Themen verbindet. Sein Roman „Der weite Raum“ [im litauischen Original: Tolima erdvė] spielt in einer futuristischen, totalitär regierten Metropole und thematisiert die Organisation der Gesellschaft, die Angst vor Veränderungen, Freiheit und ihren Preis. Das Werk erschien im litauischen Original bereits 2008 in Vilnius, wurde ins Englische und Französische übersetzt und international mehrfach ausgezeichnet. Melnik lebt in Vilnius und schreibt seit 2012 auch wieder in ukrainischer Sprache.

Weitere Werke von Jaroslav Mel’nyk in der SBB finden Sie hier.


Dezorientacje : Antologia polskiej literatury queer / Amenta, Alessandro; Kaliściak, Tomasz; Warkocki, Błażej (Hrsg.)
Warszawa : Wydawnictwo Krytyki Politycznej, 2021. – 957 Seiten.
ISBN 978-83-66586-90-1.

Signatur: 3 A 283382

Der Band versammelt hundert Texte polnischer Autoren von Adam Mickiewicz über Jarosław Iwaszkiewicz und Irena Krzywicka bis hin zu Inga Iwasiów und Jacek Dehnel, die einen wichtigen Teil der polnischen Literatur und Gesellschaft vom späten 18. bis zum frühen 21. Jahrhundert abbilden. Prosaische Fragmente, essayistische Skizzen und Gedichte sind hier nicht nur Zeugnis diverser literarischer Phänomene, sondern vor allem auch Zeichen sich verändernder soziokultureller Muster und Normen. „Desorientierungen…“ sind somit Teil eines globalen Kontextes von „queer studies“, aber auch eines lokalen, der sich auf Maria Janions legendäre anthologische Serie „Transgresje“ (Link zum StaBiKat) aus den 1980er Jahren bezieht.


Hrdinky : Příběhy významných českých žen / Fučíková, Renáta; Tučková, Kateřina; Křížová, Lenka; Musilová, Anna
Praha : Euromedia Group, 2020. – 165 Seiten. ISBN 978-80-242-6888-0.
(Universum)

Signatur: 3 B 25502

Das Buch über berühmte und weniger bekannte tschechische Heldinnen ist das Werk eines Kollektivs tschechischer Schriftstellerinnen und folgt einem heute populären Trend – es zeigt, dass Frauen am Lauf der Geschichte maßgeblich beteiligt waren und sind. Die Publikation enthält viele schöne Illustrationen von Studenten des Didaktischen Illustrationsstudios der Westböhmischen Universität in Pilsen.


Černá, Jana: Totale Sehnsucht : Liebesbrief – Gedichte – Clarissa – Gefängnis.
Ausgewählt und aus dem Tschechischen übersetzt von Martina Lisa.
Wien : Ketos, 2022. – 173 Seiten. ISBN 978-3-903124-24-0.
(Kētos ; Band 24)

Signatur: 10 A 146604

Die Erstübersetzung einer Werkauswahl von Jana Černá (1928-1981) gibt einen wunderbaren Einblick in das facettenreiche Leben und Arbeiten der wichtigsten weiblichen Stimme des tschechoslowakischen Undergrounds. Die 1928 geborene Jana Černá, auch bekannt unter dem Namen Honza Krejcarová, war eine tschechische Schriftstellerin, sie starb 1981 bei einem Verkehrsunfall. Die Texte wurden von der 1981 in Prag geborenen Übersetzerin Martina Lisa ausgewählt und übersetzt.

Weitere Literatur von bzw. über Jana Černá in der SBB finden Sie hier.


Venclova, Tomas: Variation über das Thema Erwachen : Gedichte.
Aus dem Litauischen von Cornelius Hell. Mit einem Nachwort von Michael Krüger.
München : Hanser, 2022. – 108 Seiten. ISBN 978-3-446-27298-9.
(Edition Lyrik Kabinett ; Band 50)

Signatur: 10 A 144046

Der Band enthält 33 Gedichte aus 19 Jahren, entstanden zwischen 2003 und 2021, mit Kommentaren und einem Nachwort versehen, die ersten vier Gedichte zweisprachig – litauisches Original und deutsche Übersetzung. Tomas Venclova, geboren 1937 in Memel (Klaipėda), ist ein litauischer Dichter, Schriftsteller und Übersetzer, studierte Lituanistik in Vilnius, lebte zeitweise in Moskau, traf dort Boris Pasternak und Anna Achmatova, lehrte in Vilnius, war in der litauischen Bürgerrechtsbewegung aktiv und musste 1977 in die USA emigrieren, wo er an der Yale University russische und osteuropäische Literatur lehrte. Er übersetzte Werke von Czesław Miłosz und Joseph Brodsky, die wiederum seine Werke übersetzten. Miłosz nannte das Zusammenwirken der drei ein „poetisches Triumvirat“. Heute lebt Venclova, der als der bedeutendste Dichter Litauens gilt, wieder in Vilnius.

Weitere Werke von und über Tomas Venclova in der SBB finden Sie hier.


Orosz, István: Páternoszter. / DCXCI.
[Budapest] : Helikon, 2021. – 605 Seiten. ISBN 978-963-479-543-8.

Signatur: 3 A 284088

Bis zum Erscheinen dieses Romans im Jahr 2021 hatte sich István Orosz, 1951 in Kecskemét (Ungarn) geboren, weniger als Schriftsteller als vielmehr als vielfach ausgezeichneter, auch international anerkannter Grafiker einen Namen gemacht. In diesem Roman „Paternoster“ wird ungarische Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Die Ereignisse spielen hauptsächlich in Budapest in drei Zeitebenen, 1952-1953 während des Rákosi-Regimes, in den Jahren der Demokratisierung nach 1989 und 2020. Auf dem Buchumschlag ist der Stalinist und Diktator Mátyas Rákosi abgebildet in Anlehnung an ein sehr populäres Plakat der Wendezeit von István Orosz, das einen sowjetischen Offizier von hinten zeigte mit der Überschrift „ТОВАРИЩИ КОНЕЦ!“ [Genossen, es ist vorbei!] als Aufforderung an die sowjetischen Truppen, Ungarn zu verlassen.

Publikationen von dem Künstler István Orosz in der SBB finden Sie hier.


Platonow, Andrej: Der makedonische Offizier : Prosa.
Aus dem Russischen übersetzt, mit Kommentaren und einem Nachwort versehen von Michael Leetz.
Berlin : Suhrkamp, 2021. – 155 Seiten. ISBN 978-3-518-43026-2.

Signatur: 10 A 146573

Andrej Platonow (Russisch: Андрей Платонович Платонов [Andrej Platonovič Platonov], 1899-1951) gilt als bedeutender russisch-sowjetischer Schriftsteller. Seine Hauptwerke, die Romane „Tschewengur“ (Russisch: Чевенгур [Čevengur], 1926-1929) und „Die Baugrube“ (Котлован [Kotlovan], 1930), durften in der Sowjetunion bis zur Perestrojka nicht erscheinen. Er war Ingenieur und schrieb überwiegend „für die Schublade“. Erst mit der Veröffentlichung seiner Werke seit den 90er Jahren wurde er einem breiteren russischen Publikum bekannt. In Deutschland gilt er als Neuentdeckung. „Der makedonische Offizier“ (Македонский офицер [Makedonskij Oficer]) ist 1932 bis 1936 entstanden. Das Roman-Fragment ist geprägt durch Platonows Kritik an Stalin und die Vorahnung einer globalen Katastrophe. Der makedonische Offizier soll im geheimen Auftrag Alexanders des Großen in Asien ein Bewässerungsprojekt durchführen, plant aber stattdessen einen Aufstand gegen den Despoten.

Michael Leetz, 1972 in Berlin geboren, hat sich der Erforschung und Übersetzung von Platonows Werken verschrieben. So umfasst dieser Band neben dem Roman-Fragment Kommentare und weitere Texte, wie z.B. Notizbücher der Entstehungsjahre sowie biografische Hinweise.

Werke von und über Andrej Platonow in der SBB finden Sie hier.


Mellin, Ruslan: Atmen : Gesichter einer Pandemie.
Aus dem Russischen von Klara Weiß. Mit einem Vorwort von Kerstin Holm.
Berlin : ciconia ciconia, 2021. – 119 Seiten. ISBN 978-3-945867-39-6.
(ciconia ciconia ; No. 39)

Signatur: 10 A 143649

Ruslan Mellin, 1989 in Sibirien geboren, verbindet seine künstlerische Gabe und die Leidenschaft für das Zeichnen mit dem Beruf des Arztes. In diesem Band dokumentiert der Arzt, Künstler und Autor (für seinen Sohn Viktor) seine Erlebnisse nach Ausbruch der Corona-Pandemie im neu organisierten Corona-Krankenhausbetrieb der sibirischen Stadt Kemerowo. Spezialisiert auf Kiefer- und Gesichtschirurgie sind der Großteil seiner Patienten Gewaltopfer. Neben männlichen Soziopathen, die sich gegenseitig schwer verletzen, konstatiert er auch eine steigende Zahl von Frauen, die in dieser Zeit durch häusliche Gewalt zum Teil schwerst misshandelt werden.


Ulitzkaja, Ljudmila: Alissa kauft ihren Tod : Erzählungen.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
München : Hanser, 2022. – 301 Seiten. ISBN 978-3-446-26965-1.

Signatur: 10 A 146576

Ljudmila Ulitzkaja (Russisch: Людмила Евгеньевна Улицкая [Ljudmila Evgen’evna Ulickaja]) und ihr reiches schriftstellerisches Werk ist im deutschen Sprachraum dank ihrer langjährigen Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt seit langem bekannt, anerkannt, geschätzt und mit Preisen bedacht (zuletzt 2020 mit dem Siegfried Lenz Preis). Nach vielen Romanen bevorzugt sie, Jahrgang 1943, inzwischen die kleinere Form der Erzählung. „Alissa kauft ihren Tod“ enthält die drei Zyklen „Freundinnen“, „Vom Körper der Seele“ und „Sechs mal sieben Miniaturen“. Eine Erzählung ist der 2015 verstorbenen Direktorin der Rudomino-Bibliothek für Ausländische Literatur in Moskau (kurz: Inostranka) Jekaterina Genieva gewidmet. [Dieser Band konnte aus Platzgründen nicht ausgestellt werden.]

Literatur von und über Ljudmila Ulitzkaja in der SBB finden Sie hier.


Kontakt und Wissenswertes zum Thema

Weitere Informationen, auch zu unseren Neuerwerbungen, finden Sie auf diesen Seiten:

 

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