Geschichte abbilden: Comics und Graphic Novels in der Kinder- und Jugendliteratur
Ein Beitrag von Nina Breloh
Comics sind schon seit Langem ein fester Bestandteil der Kinder- und Jugendliteratur. In klassischer Ausführung bieten sie vor allem lustige Geschichten und spannende Unterhaltung. Inzwischen übernehmen Comics und Graphic Novels aber auch eine ernstere Aufgabe; für viele Autor:innen sind sie ein geeignetes Medium, jungen Leser:innen Geschichte nahzubringen und über schwierige Themen aufzuklären.

Art Spiegelman: Maus : die Geschichte eines Überlebenden. Fischer, 2023. © S. Fischer Verlage. – Signatur: 53 BA 7648
Das wahrscheinlich bekannteste Beispiel und einer der ersten Comics dieser Art ist Art Spiegelmans Maus, in dem der Autor die Erlebnisse und Verfolgung seines Vaters während des zweiten Weltkriegs schildert und die Menschen als verschiedene Tiere darstellt. So sind die jüdischen Bürger:innen als Mäuse gezeichnet, während die deutschen als Katzen und die polnischen als Schweine dargestellt werden. Diese Abstraktion ist ein beliebtes Mittel, zu dem Comic-Autor:innen greifen, und auch einer der Gründe, warum Comics und Graphic Novels so gut dafür geeignet sind, schlimme und verstörende Ereignisse wiederzugeben.
Während nämlich Fotografien oder zu reale Abbildungen eine Abwehrreaktion bei den Betrachtern auslösen, sodass das Gesehene ausgeblendet und nicht an sich herangelassen wird, erschaffen abstrahierende Zeichnungen eine gewisse Distanz, die paradoxerweise dafür sorgt, dass einem die Realität hinter der Abbildung nähergebracht wird und aufgenommen werden kann. Comics und Graphic Novels können aus diesem Grund Themen wie z.B. Krieg oder Gewalt in einem Rahmen darstellen, in dem den Leser:innen die Schwere der Situation bewusst wird, ohne dass das Abgebildete zu verstörend ist, um angesehen und wahrgenommen zu werden.
Ein weiterer Aspekt, der Comics zu einem so geeigneten Medium macht, ist die Tatsache, dass Bilder eine Art universelle Sprache bilden. Während ein reiner Text oft Erklärung oder Vorwissen voraussetzt und nie neutral aufgenommen werden kann, da Sprache abhängig vom Leser oder der Leserin immer unterschiedlich konnotiert und kulturell aufgeladen ist, bieten Bilder einen direkteren Zugang. So kann es nicht zu einer Entrückung oder Hürde durch zu komplizierte Sprache kommen. Junge Leser:innen haben deswegen eventuell sogar einen Vorteil beim Lesen von Comics und Graphic Novels, da sie ohne Voreingenommenheit die Bilder betrachten und dekodieren können. Sie haben folglich einen uneingeschränkteren Blick als Erwachsene.
Zuletzt haben Comics und Graphic Novels auch ein anderes Verhältnis zur Zeit. In ihnen können die Vergangenheit und Gegenwart als gleichzeitig dargestellt werden und sich überlagern. Natürlich gibt es auch in Prosatexten nicht-chronologisches Erzählen, in dem Sprünge in der Zeit passieren oder Momente des Erinnerns in die Gegenwart einbrechen. Trotzdem kann immer nur eine der Zeiten beschrieben werden und nie beide gleichzeitig, etwas, das bei Comics jedoch möglich ist. In einem einzelnen Bild kann die Vergangenheit parallel zur Gegenwart abgebildet werden. Durch diese Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart und dadurch, dass keine klare Trennung zwischen den beiden vollzogen werden kann, erscheinen die abgebildeten historischen Momente weniger fern. Sie sind kein lang vergangener Moment, in den man sich nicht mehr hineinversetzen kann, sondern gleichwertig mit dem Hier und Jetzt. Außerdem ermöglicht es das Medium des Comics den Autor:innen, Fotos und andere historische Dokumente aus der Zeit einfach abzubilden und dadurch die Geschichte noch einmal greifbarer zu machen.
Einige Beispiele aus dem Magazin der Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin:

Bianca Schaalburg: Der Duft der Kiefern : meine Familie und ihre Geheimnisse. Avant, 2021. © avant-verlag
Der Duft der Kiefern von Bianca Schaalburg
In Der Duft der Kiefern arbeitet Bianca Schaalburg die Geschichte ihrer Familie auf. Basierend auf den Erzählungen ihrer Oma und Mutter und eigener Recherche wirft dieser Comic nicht nur ein Licht auf die privaten Erlebnisse der Familie, sondern auf die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs und die Folgezeit im Allgemeinen. Die Autorin kämpft mit ihren Nachforschungen gegen das Vergessen und Schweigen an, das so viele Menschen nach Ende des Kriegs befallen hat, und klärt somit ihre Leser:innen über die Verbrechen des Nationalsozialismus auf.
Auszeichnungen: Deutscher Jugendliteraturpreis 2022 in der Kategorie Sachbuch; Deutschlandfunk – Die besten 7 im Monat November 2021
Signatur: 53 BB 10863
Der verkehrte Himmel von Mikael Ross
In Der verkehrte Himmel berichtet Mikael Ross von einer vietnamesischen Frau in Berlin, die auf der Flucht vor einem Mann ist, der sie nach Europa eingeschleust und anschließend gefangen gehalten hat. Durch einen Zufall verstrickt sich ihr Schicksal mit dem eines Geschwisterpaars aus Lichtenberg, dessen Eltern ebenfalls zu DDR-Zeiten aus Vietnam nach Deutschland kamen. Der Comic behandelt also Themen wie Migration, soziale Herkunft, Flucht und Menschenhandel und bringt diese den Leser:innen näher.
Auszeichnungen: Deutschlandfunk – Die besten 7 im August 2024; Börsenblatt – Leselotse September 2024
Signatur: 53 BA 17285
Columbusstraße von Tobi Dahmen
Ähnlich wie in Der Duft der Kiefern hat auch Tobi Dahmen in Columbusstraße seine Familiengeschichte zur Zeit des Nationalsozialismus aufgearbeitet. Durch das Abdrucken echter historischer Dokumente und dem Wechsel zwischen Handlungen, die in der heutigen Zeit und welchen, die während des Zweiten Weltkriegs spielen, entsteht die oben benannte Nähe zur Geschichte und ihren Geschehnissen.
Ausgezeichnet: Deutschlandfunk – Die Besten 7 im Oktober 2024; Börsenblatt – Leselotse November/Dezember 2024
Signatur: 53 BA 17292
Die Leichtigkeit von Catherine Meurisse
Catherine Meurisses Leichtigkeit handelt von den Folgen des Terroranschlags auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“. Sie selbst war Teil der Redaktion, kam am Tag des Anschlags jedoch zu spät zur Arbeit und überlebte aus diesem Grund. In ihrer Graphic Novel verarbeitet sie die Erlebnisse, die Trauer und den Schock. Ein Trauma ist oft von einer Unfähigkeit geprägt, das Erlebte zu beschreiben oder mit Worten wiederzugeben. Deswegen greift auch Meurisse auf das Medium des Comics zurück, um ihre Gefühle in Bildern darzustellen.
Signatur: 53 BB 9364
Weiterführende Literatur:
Modan, Rutu: Was wir sehen, wenn wir Comics lesen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2022, S. 18.
Schaalburg, Bianca: Meine Familie und ihre Geheimnisse. In: Eselsohr. Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien 44 (2025), Heft 3, S. 33.
Partenopeo, Alemannò: Der Duft der Kiefern by Bianca Schaalburg. In: Literaturzeitschrift.de, 26.11.2021.
Deutscher Jugendliteraturpreis/Kritikerjury: Der Duft der Kiefern von Bianca Schaalburg : Jurybegründung. Im Archiv des Arbeitskreises für Jugendliteratur: www.jugendliteratur.org .
Merten, Silke: Buchkritik. Mikael Ross – Der verkehrte Himmel. In: SWR Kultur, 29.08.2024.
Lungershausen, Gerrit: Der verkehrte Himmel. In: Comicgate. Unabhängiges Comicmagazin seit 2000, 01.01.2025.
Muschweck, Christian: Columbusstraße – Eine Familiengeschichte 1935-1945. In: Comicgate. Unabhängiges Comicmagazin seit 2000, 20.07.2024.
Heß, Jonas: Von der Schönheit und der Angst. In: Literaturkritik.de, 06.09.2017.
Die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin dankt ihrer ehemaligen Praktikantin sehr herzlich für diesen Beitrag!







Beltz & Gelberg




Ihr Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!