Familienfund vom Dachboden wird entschlüsselt – Militärhistoriker:in gesucht!
Die Staatsbibliothek hatte im Mai 2025 ein Citizen Science-Projekt gestartet: die Öffentlichkeit wurde eingeladen, Familienerinnerungen vom Kriegsende zum Digitalisieren in die Stabi zu bringen. Über 87 historisch interessante und menschlich berührende Geschichten aus den Jahren 1945-1950 kamen so für die Datenbank 1945.transcribathon.eu zusammen. Eine erzählt vom Schicksal des Berliners Willi Krüger, dessen handgeschriebenes Fahrten- und Tagebuch einige Wohnungsauflösungen überlebt hat und zuletzt in die Hände von Gudrun Nelson-Busch gekommen ist, die es für das Projekt mitgebracht hat. Sie weiß über ihn zu berichten:
„Willi Krüger aus Berlin-Rixdorf wurde im August 1939 im Alter von 36 Jahren eingezogen und während des Krieges als Kraftfahrer eingesetzt. Das hier gezeigte Dokument beginnt mit dem Eintrag der geleisteten Fahrten zwischen 1939 und 1945. Im Mai 1945 befindet er sich gerade auf heute tschechischem Gebiet. Er schildert nun ausführlicher im Fahrtenbuch wie er versucht, sich zu den amerikanischen Truppen durchzuschlagen, was allerdings misslingt. Er gerät in russische Kriegsgefangenschaft und beschreibt die Fahrt ins Lager und die dortige Zeit. Im August 1946 wird er arbeitsunfähig und kommt im Anschluss ins Lazarett. Im Oktober wird er mit sieben anderen Gefangenen im Zug nach Deutschland geschickt. Am 16.11.1946 schreibt er: ‚Der schönste Tag meines Lebens, ich bin wieder frei und fahre nach Berlin. Es ist nicht denkbar, aber doch Wirklichkeit, keine Bewachung mehr.’“

Fahrten- und Soldbuch von Willi Krüger, digitalisiert für die Datenbank https://1945.transcribathon.eu/, einer Kooperation von Facts & Files und der Stabi Berlin
Im zweiten Teil des Projektes bietet die Staatsbibliothek Workshops an, in denen alle Interessierten dazu beitragen können, die handschriftlichen Dokumente zu entziffern. Das hat u.a. den Vorteil, dass diese anschließend Wort für Wort elektronisch durchsucht werden können. Die Transkription dient also dazu, bisher völlig unbekannte historische Quellen aus Familienbesitz für die Öffentlichkeit und die Forschung zu erschließen. Außerdem können die Bürgerwissenschaftlerinnen und Bürgerwissenschaftler, die „Citizen Scientists“, auch weitere Hinweise z.B. auf Orte und beteiligte Personen geben. Die sogenannte „Georeferenzierung“ erlaubt es, sich die ermittelten Orte in einer Kartenansicht anzeigen zu lassen.
Der „Fall“ Willi Krüger, der in seinem Fahrtenbuch minutiös verzeichnete, welche Strecken er zurücklegte, aber nicht aufschrieb, welche Militärs er durch halb Europa fuhr, wird seither von Sabine W. ehrenamtlich bearbeitet, die das Projekt in der Staatsbibliothek kennengelernt hat und sich freut, als Rentnerin an ihr Geschichtsstudium wieder anknüpfen zu können. Einen Großteil des Fahrtenbuches, das sich später zu einem Tagebuch wandelte, hat sie bereits entziffert und die Transkriptionen in die Datenbank eingetragen. Hierzu muss man sich lediglich einen kostenlosen Zugang mit einer E-Mail-Adresse zulegen, diese einmal bestätigen und kann gleich loslegen. Sabine W. hat zudem begonnen, in der Datenbank auch die zahlreichen Orte einzutragen. Die Reise führte den Chauffeur zunächst nach Ostpreußen, dann an die Westfront nach Luxemburg, Belgien bis nach Frankreich, später wieder in den Osten bis hin in die damalige Sowjetunion. Um welche Orte es sich genau handelt, ist gar nicht so einfach zu ermitteln. Sabine W. beschreibt ihre Erfahrungen:
„Sehr viele dieser – für ihn ausländischen und auch fremden – Namen – aus mehreren europäischen Ländern – hat Willi Krüger nach dem Gehör aufgeschrieben: z.B. „Neufschatel“. Beim Transkribieren ist das kein Problem, denn die Schreibweise des Autors wird übernommen. Willi Krügers Schrift ist zum Glück gut lesbar. Natürlich kann ich es wohl einfach dabei belassen. Dann bin ich auch schneller. Aber ich möchte auch gern ermitteln, welcher Ort gemeint ist. Daher folgt jetzt mein Versuch, die korrekte Schreibweise der Orte zu ermitteln. Hier können schon die ersten Fehler entstehen. Kenne ich einen Ort, der sich so spricht und vielleicht anders schreibt? (Vielleicht ist es aber ein anderer, der mir gerade nicht einfällt?) Die verwendete Software verlangt eine Entscheidung.“
Diese Entscheidung fällt beim Beispiel “Neufschatel“ schließlich für Sabine W. wie folgt aus:
„Von mehreren Orten dieses Namens in Frankreich und einem in der Schweiz ist am wahrscheinlichsten Neufchâtel-sur-Aisne, weil sich der Fahrer in dieser Umgebung bewegt.“
Sie verlinkt den Ort auch mit Wikidata und setzt auf der Landkarte ein Fähnchen. Wenn man das Fahrtenbuch in der frei zugänglichen Datenbank aufruft (Story – Berlin 1945), kann man eine ganze Perlenkette an Orten sehen, die Sabine W. eingetragen hat:

Akribische Arbeit der Bürgerwissenschaftlerin Sabine W.: In der Datenbank https://1945.transcribathon.eu/ eingetragene Orte, an die Willi Krüger unbekannte Militärangehörige chauffierte.
Nun geht die Reise weiter:
„In einem nächsten Schritt betrachte ich die Reiseroute des Autors und entscheide bei der Auswahl des möglichen Ortes, ob er zu dem vorherigen und zu dem nachfolgenden Ort in den Notizen passen könnte. Ich prüfe auch, ob mehrere unbekannte Orte wohl in derselben Region liegen. Ich gehe davon aus, dass der Autor nicht im Zickzack gereist ist, aber wer sagt, dass es sich wirklich so verhält? Die Software bietet Platz für einen kurzen Kommentar. Hier erläutere ich meine Überlegungen.
Die nächste Schwierigkeit besteht darin, dass es in manchen Ländern offenbar (leider) üblich ist, Ortsnamen mehrfach zu vergeben, das kann bis zu fünfmal vorkommen. Derselbe Ortsname kann aber auch in verschiedenen Ländern auftauchen. Ich gehe davon aus, dass der Autor meist nur in einem Land gleichzeitig unterwegs war. Manchmal hat er Grenzüberschreitungen auch notiert. Wieder notiere ich kurz die Gründe meiner Entscheidung zur Ortsauswahl, wo die Software es vorsieht.
Wenn nun die bisherigen Überlegungen nicht zu einem Ergebnis führen, wende ich mich dem Umfeld des Autors und dem Zweck seiner Reisen zu (und hoffe, dass ich beides nach seinen spärlichen Kommentaren richtig einschätze. Ich kenne seinen Beruf und sein Tätigkeitsfeld, letzteres sehr oberflächlich, weil er zu Beginn seiner Notizen dazu kurze Angaben gemacht hat.) Passt der erwähnte Ort, passt die ermittelte Infrastruktur des Ortes zu der vom Autor erwähnten Zeit und zu seinem beruflichen Umfeld? Gab es dort Einrichtungen, die zu besuchen für ihn sinnvoll gewesen sein könnten? – Hier frage ich mich schon, ob meine Neugier im Rahmen eines Transcribathonprojekts nicht zu weit führt …“
Es ist Sabine W. anzumerken, dass sie Freude an der geographischen und militärhistorischen Detektivarbeit hat. Gleichzeitig ist sie etwas im Zweifel, ob ihre Überlegungen als „Laiin“ auf diesem Gebiet vor der vermeintlich ‚strengen Wissenschaft‘ Bestand haben können. Sinn und Zweck eines Citizen Science-Projektes ist es aber auch, die Forschung aus dem Elfenbeinturm zu holen und alle interessierten Bürgerinnen und Bürger dazu zu ermutigen, sich als wichtigen Bestandteil des Forschungsprojektes anzusehen. Gleichzeitig ist es ein Ziel, Personen aus der Zivilgesellschaft und aus der Wissenschaft zusammenzuführen und Methoden und Arbeitsweise der Forschung in die Gesellschaft zu tragen und transparent zu machen.
Und hier setzt unsere Suche nach Personen mit Hintergrundwissen an: wir haben den Eindruck, dass das Fahrtenbuch von Willi Krüger eine wertvolle Quelle für die militärhistorische Forschung sein könnte. Wer kann helfen zu ermitteln, welche Militärs Willi Krüger von einer Front zur anderen gefahren hat? Waren es immer dieselben oder vielleicht unterschiedliche hohe Offiziere? Was war der Zweck der Fahrten? Waren es Inspektionsfahrten, Lagebesprechungen, Versorgungs- oder Kurierfahrten mit brisanten Nachrichten für den weiteren Kriegsverlauf? Gibt es militärische Karten, die uns bei der Suche nach den Hintergründen der Reisen weiterführen? Die Kartenabteilung der Stabi hat Sabine W. schon ihre Unterstützung angeboten.
Die Besitzerin des Fahrtenbuches kann mit ihrem familiengeschichtlichen Hintergrund leider keine tieferen Erkenntnisse aus den Erzählungen des zweiten Mannes ihrer Großmutter beisteuern.
Über das spätere Schicksal Willi Krügers ist einiges bekannt. Berührend war nach langen Monaten der Kriegsgefangenschaft die Rückkehr in seine Heimat in Berlin-Neukölln in die Zwiestädterstraße 4: „Meine liebe Frau treffe ich schon auf der Treppe. (Ein herzliches Wiedersehen.)“ Von seiner Frau erfuhr er dann jedoch auch, dass sein 16-jähriger Sohn noch in den letzten Kriegstagen eingezogen wurde. Am 2. Mai war er zuletzt lebend gesehen worden, blieb dann aber vermisst.
Willi Krüger versuchte im November 1946 bei seinem früheren Arbeitgeber, bei dem er seit 1925 gearbeitet hatte, wieder eine Anstellung zu bekommen, erhielt aber stattdessen seine Entlassungspapiere. Später hat er dann bis zu seiner Verrentung als Kraftfahrer bei der Berliner Kindl-Brauerei gearbeitet. Von 1925 bis 1967 war er Mitglied der Gewerkschaft, seit 1952 im DGB. Seine erste Frau verstarb. Am 14.7.1967 heiratete er ein zweites Mal. Seine zweite Frau hatte drei erwachsene Töchter und zwei Enkelkinder, darunter die jetzige Besitzerin des Tagebuchs. Im Juni 1980 verstarb er auf einer Urlaubsreise in Vejle/Dänemark.
Haben wir Ihr Interesse am Projekt geweckt? Haben Sie ebenfalls Stücke und Geschichten, die Sie beisteuern möchten? Melden Sie sich gerne mit allen Ideen und Erkenntnissen unter mitforschen@sbb.spk-berlin.de
Oder nehmen sie an unseren Workshops teil:
12. August 2025, 15:30-17 Uhr, Haus Unter den Linden, Raum Oxford
13. August 2025, 12-13:30 Uhr, online
10. September 2025, 12-13:30 Uhr, onlineWeitere Workshop-Termine finden Sie regelmäßig auf unserer Seite:
lab.sbb.berlin/erinnerungen1945/Mehr zu unseren Citizen Science-Projekten finden Sie im Stabi Lab:
lab.sbb.berlin/citizen-science
In Zusammenarbeit mit Facts & Files Historisches Forschungsinstitut Berlin und Facts & Files Digital Services GmbH und Europeana.
Teil der stadtweiten Themenwoche 80 Jahre Kriegsende auf Initiative und gefördert vom Land Berlin, realisiert von Kulturprojekte Berlin mit zahlreichen Partnern.
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