Daniel Georg Morhof, Polyhistor (Lübeck: Peter Böckmann, 1708); Berlin, SBB-PK: Bibl. Diez qu. 2256

Annotiertes Wissen: Lehrbücher und die Vermittlung von Information in der Aufklärung

Gastbeitrag von Philippe Bernhard Schmid

Am Gymnasium hatten wir von unserem Chemielehrer einen eigenartigen Auftrag erhalten: Wir sollten, nachdem wir ein Experiment durchgeführt hatten, die chemischen Formeln in Wikipedia recherchieren und gegebenenfalls korrigieren. Dazu hatten wir die entsprechenden Einträge auf der Website mit den einschlägigen universitären Lehrbüchern der organischen Chemie verglichen, die uns der Lehrer zur Verfügung gestellt hatte. Das Resultat war positiv: Wir waren beeindruckt von der wissenschaftlichen Genauigkeit der kurzen Beiträge auf Wikipedia. Unser Lehrer hatte uns so ein wichtiges Prinzip der kooperativen Enzyklopädie selbst vor Augen geführt: Information sollte von mehreren Menschen immer wieder neu überprüft und notfalls berichtigt werden.

Diese Ergänzung und Kommentierung von Wissen, die wir heute primär mit Wikipedia und dem Internet assoziieren, ist jedoch nicht neu. Bereits in der Frühen Neuzeit waren Referenzwerke oder “books about books” – wie die Historikerin Ann Blair sie nennt – ein zentraler Bestandteil in den Hörsälen der Gymnasien und Universitäten. Schon um 1700 wurden Lexika, Enzyklopädien und Lehrbücher im Unterricht eingesetzt und von den Magistern an den Rändern handschriftlich, d.h. in der Regel mit Tinte und Feder, mit Notizen, Korrekturen oder Kommentaren ergänzt. Als eine universitäre Disziplin hatte sich in der frühen Aufklärung besonders das Fach der historia litteraria an den Universitäten mit dem Ordnen und Klassifizieren von Information beschäftigt. Die Bezeichnung lässt sich als Geschichte der (gelehrten) Literatur oder allgemeiner als Geschichte des Wissens übersetzen und kann mit Einleitungen in die Literaturrecherche – oder eben aktuell mit Wikipedia – verglichen werden.

Auch das Fach der historia litteraria wurde hauptsächlich in den frühen Semestern als ein Tutorium zur Einführung in die Recherche, Bibliographie und Benutzung von Bibliotheken unterrichtet. Wie der Historiker Paul Nelles nachgewiesen hat, wurde darin auch die Geschichte der wichtigsten Fächer wie der Theologie, Jurisprudenz oder Medizin behandelt. Dabei war diese Disziplin inspiriert vom Ideal Francis Bacons (1561–1626), eine alles umfassende Geschichte des Wissens von der Antike bis zur Gegenwart zu schreiben. Dieses kollaborative Projekt der Wissensgeschichte war seit den frühesten Vertretern im Umfeld von gelehrten Institutionen wie z.B. Schulen, Gymnasien oder Universitäten vermittelt worden; innerhalb des Heiligen Römischen Reichs nach dem Dreißigjährigen Krieg etwa von Hermann Conring (1606–1681) in Helmstedt oder Peter Lambeck (1628–1680) in Hamburg. Die resultierenden Lehrbücher waren aber keine statischen Produkte des Unterrichts. Sie zeugen vielmehr von einer dynamischen und intermedialen Interaktion zwischen dem Text und der Schule einerseits und zwischen handschriftlichen Notizen und gedruckten Publikationen andererseits. Die zunehmende Annotation und Kommentierung des überlieferten Wissens führte daher zu einer Reihe von neuen Auflagen der Lehrbücher, die mit der Zeit von dünnen Bänden zu schweren Kompendien angewachsen sind.

Daniel Georg Morhof, Polyhistor (Lübeck: Peter Böckmann, 1688); Berlin, SBB‑PK: A 5340

Dieser kollaborative Prozess der stufenweisen Annotation und Ergänzung von Lehrbüchern lässt sich etwa in der berühmten Enzyklopädie von Daniel Georg Morhof (1639–1691) beobachten, dem Polyhistor, der 1688 zum ersten Mal aufgelegt wurde und historia litteraria als bibliographisches Projekt präsentiert, um das Wissen der Vergangenheit für die Gegenwart aufzubereiten. Während diese erste Auflage noch in einem relativ schmalen Band Platz fand, war der Text des Lehrbuchs bis zur neuen Auflage im Jahr 1708 zu einer umfassenden Publikation angewachsen, wie ein Vergleich der beiden Exemplare aus den Beständen der Staatsbibliothek zu Berlin zeigt. Die neuere Auflage kann heute nur noch schwer und mit großer Sorgfalt gelesen werden – allein das Gewicht macht eine leichte Lektüre unmöglich! Der erste Eindruck sollte aber nicht zu einem vorschnellen Urteil über barocke Vielwisserei oder Polyhistorismus verleiten. Tatsächlich handelt es sich hier nicht um das Produkt eines allwissenden Individuums, sondern um das Endergebnis einer längeren Zusammenarbeit mehrerer Generationen von jüngeren und älteren Forschern. Wie das Titelblatt uns bereits informiert, hat ein Schüler von Morhof, Johannes Moller (1661–1725) aus Flensburg, diese neue Auflage aus Notizen aus dem Unterricht, Annotationen des Autors und anderen Handschriften vorbereitet. Dazu wurde auch ein Index erarbeitet, der ein schnelleres Auffinden von Informationen erleichtern sollte.

Schüler und Studenten legten also nach den Diktakten der Tutoren Notizen an. Umgekehrt haben Tutoren oft die Mitschriften von Studenten als Vorlage für ihre Lehrbücher oder für deren spätere Überarbeitung genommen. Nicht selten wurden diese Auflagen erst posthum von früheren Schülern der Autoren herausgegeben – wie im Fall von Moller, der nach dem Tod von Morhof eine ergänzte Edition des Lehrbuchs herausgab. Seit dem späten 17. Jahrhundert wurden in gedruckten Büchern auch immer öfters Fußnoten zum Einsatz gebracht. Diese ermöglichten in den Lehrbüchern eine stufenweise Ergänzung eines Lehrtextes um verschiedene Schichten – auch aus unterschiedlichen Quellen – sogar über mehrere Jahrzehnte hinweg. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Kompendium von Burkhard Gotthelf Struve (1671–1738) von der Universität Jena, die Introductio in notitiam rei litterariae (etwa Einführung in die Literatur- und Bücherkunde), die 1704 zum ersten Mal erschienen ist. Der ursprüngliche Text ist ein reiner Fließtext und verfügt noch über keine Fußnoten. Dabei wurden die Zitate direkt im Text markiert, indem die Namen der zitierten Autoren in Kapitälchen gesetzt wurden. Das Titelblatt der zweiten Auflage von 1706 bewirbt neue Ergänzungen und Korrekturen, die aber direkt in den Text eingearbeitet wurden. Vergleicht man diese frühen Exemplare mit der späteren Ausgabe von 1754 aus den Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin, so fällt erneut – wie bei Morhof – der Größenunterschied ins Auge: hier sind aus einem Buch mehrere Bücher geworden!

Burkhard Gotthelf Struve, Introductio in notitiam rei litterariae (Frankfurt am Main: Heinrich Ludwig Brönner, 1754); Berlin, SBB‑PK: Al 212

Im Fall des annotierten Lehrbuchs von Struve, der zum Zeitpunkt der Auflage von 1754 schon seit mehr als zehn Jahren tot war, basiert der Unterschied aber primär auf den Fußnoten. Hier war es hauptsächlich Michael Lilienthal (1686–1750), Bibliothekar der Königsberger Stadtbibliothek, der für die Annotationen und Ergänzungen in den Fußnoten verantwortlich war. Anja-Silvia Goeing und Anthony Grafton haben in einem wichtigen Band auf die zentrale Rolle von Lehrbüchern für die Überlieferung von Wissen in der Frühen Neuzeit hingewiesen. Tatsächlich kann man in jedem Fall nachverfolgen, wie unter bestimmten Textpassagen neue Referenzen, biographische Informationen und weitergehende Literatur in den Fußnoten ergänzt wurden. Diese basierten wahrscheinlich z.T. auf Notizen aus früheren Ausgaben von Struve und z.T. auf mündlich im Unterricht von jüngeren Lehrern vorgetragenen und von Studenten in Mitschriften festgehaltenen Ergänzungen. Anhand mathematischer Lehrbücher in Paris hat Richard Oosterhoff jedoch gezeigt, dass dieser Prozess der Produktion von Lehrbüchern auf der Basis von Notizen nicht nur Studenten in den kollaborativen Arbeitskreis des frühneuzeitlichen Buchdrucks mit einbezog, sondern auch spezifische Folgen für die Organisation der Lehrbücher hatte. In Struves Band z.B. wird aus dem ursprünglichen Fließtext ein fast unlesbares Gemisch von Text und bibliographischen Fußnoten, die meist nur listenhaft die wichtigsten Autoren und ihre Werke aufführen, ohne weiter zum Inhalt des Texts beizutragen.

Jacob Friedrich Reimmann, Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam, Bd. 1 (Halle: Rengersche Buchhandlung, 1721); Berlin, SBB‑PK: Al 220‑1/2

Dabei waren spätere Leser*innen nicht immer einverstanden mit diesem Prozess der Redaktion. In seinem eigenen Lehrbuch der Literaturgeschichte z.B. hat Jacob Friedrich Reimmann (1668–1743) die gedruckten Vorlesungen von Hermann Conring kritisiert. In seinem Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam, der 1721 erschienen ist, vergleicht Reimmann nebeneinander die Handschrift von Conrings Vorlesungen, die ihm als Abschrift vorlag, mit dem gedruckten Text. Dabei konnte er deutliche Abweichungen aufzeigen und somit den Prozess des Kopierens bloßstellen. Dennoch war die spätere Rezeption dieser propädeutischen Lehrbücher im Allgemeinen durchaus positiv. Dirk van Miert z.B. hat jüngst gezeigt, dass die späteren mehrbändigen Werke der Göttinger Historiker und speziell die durch Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827) organisierte Geschichte der Künste und Wissenschaften strukturell von den Lehrbüchern der historia litteraria beeinflusst waren. Gerade die kollaborative Planung dieses großen Projekts, das von 1796 bis 1820 in 61 Bänden erschienen ist, spiegelt in vielerlei Hinsicht den früheren Prozess der kumulativen Annotation von universitären Lehrbüchern durch die Lehrer und ihre Schüler wider.

Man muss diese Lehrbücher aber nicht erst zu Vorreitern der Aufklärung erklären, um sie positiv aufzuwerten. Sie repräsentieren vielmehr ein tieferes menschliches Bedürfnis, Wissen kooperativ in eine Ordnung zu bringen, wie es in anderen Formen bereits in der Renaissance, im Mittelalter und in der Antike praktiziert wurde. Heute ist diese kooperative Prüfung und Ergänzung von Wissen, wie ich durch meinen Chemielehrer am Gymnasium gelernt habe, wieder wichtiger denn je.

Empfohlene Lektüre: Ann Blair, Paul Duguid, Anja-Silvia Goeing und Anthony Grafton (Hrsg.), Information: A Historical Companion (Princeton: Princeton University Press, 2021).

 

Herr Dr. Philippe Bernhard Schmid,  University of St Andrews, war im Rahmen des Stipendienprogramms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Jahr 2022 als Stipendiat an der Staatsbibliothek zu Berlin. Forschungsprojekt: „Reforming the Library: Collecting and the Organisation of Knowledge in Early Modern Europe“

Online-Werkstattgespräch zur Historia Litteraria in der Frühen Neuzeit am 22. 11. 2022

 

0 Kommentare

Ihr Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.