Das besondere Objekt: „Die Vögel Mitteleuropas“ von Oskar und Magdalena Heinroth (1922-1931)
Die Blog-Reihe „Das besondere Objekt“ möchte Ihnen in lockerer Folge besondere Titel aus den Beständen der Staatsbibliothek vorstellen. Unterschiedlichste Themen sollen zur Sprache kommen – diesmal die Vogelkunde!
„Die Vögel Mitteleuropas“
von Oskar und Magdalena Heinroth
„… in allen Lebens- und Entwicklungsstufen photographisch aufgenommen und in ihrem Seelenleben bei der Aufzucht vom Ei ab beobachtet“ (Untertitel der Bände)
Das Seelenleben der Vögel
Nie zuvor hatten sich Menschen derartig umfangreich für jede einzelne Vogelart interessiert. Das Seelenleben der Vögel? Bisher wissenschaftlich nicht existent. Von Verhaltensforschung, wie man solche Empirie heute nennt, weit und breit noch keine Spur. Kein Mensch hatte mit dieser Hingabe sein Leben und seinen Wohnraum mit Vögeln geteilt. Und ich muss Ihnen sagen: Das muss man wollen. Ich hatte als Studentin eine Zimmernachbarin, die zwei Volieren mit Zebrafinken, Zwergwachteln und Nymphensittichen neben ihrem Bett stehen hatte, während in meinem Zimmer ein Schwarm von fünf Wellensittichen flog. Nun, in jungen Jahren kann man über vieles hinwegsehen, was auf Regalen und Teppichen landet…
Die Heinroths hielten über drei Jahrzehnte hinweg regelmäßig zwei bis drei Dutzend Vögel in Käfigen, die übereinander bis zur Zimmerdecke reichten. Alle hatten ihre Flugzeiten, ihre Futtervorlieben, ihre Zu- und Abneigungen, ihre Schlafgewohnheiten. Die einzigen, die sich an jeden neuen Gast anpassten, waren: die Heinroths selbst. „Im Sommer und bis in den Herbst hinein verzichtete das Ehepaar Heinroth sozusagen auf ihr persönliches Leben. Früh 3 ½ Uhr begann für sie der Tag, und er endete oft nicht vor Mitternacht.“ (1)
Während Magdalena für etwa 30 Vögel Körner, Würmer oder Fisch herrichtete und klaffende Kükenschnäbel stopfte, ignorierte ihr Mann seine Staub- und Federallergie und notierte neben seiner Arbeit als Berliner Zoodirektor und Bauleiter des spektakulären (im Krieg leider zerstörten) Aquariums jede kleine Entdeckung. Er belegte sie mit Fotografien, bei denen ihm wiederum geduldig seine Frau assistierte. Sie war die einzige, die jeden Vogel zur Ruhe bringen konnte.
Das Wenige, das über die unermüdliche Magdalena Heinroth zu finden ist, hat ihre langjährige Freundin Paula Rühl zusammengetragen. Das Leben Oskar Heinroths hat seine zweite Frau Katharina Heinroth ausführlich und fesselnd geschildert, von frühen Forschererlebnissen im Pazifik bis zu seinen tragischen letzten Lebenswochen im Zweiten Weltkrieg.
Die Ergebnisse jener Arbeit, die ursprünglich aus reinem Forscherinteresse begonnen hatte, wurden endlich in vier umfangreichen Bänden festgehalten, die sukzessive in Heftform veröffentlicht wurden. Das minderte das unternehmerische Risiko des Verlags, war aber als Lieferungswerk durchaus eine zeitgemäße Publikationsform. Statt mit einem Mal einen hohen Betrag aufbringen zu müssen, konnten Vogelfreunde nach ihren finanziellen Möglichkeiten die neuen Hefte erwerben. Der anschließende Gang zum Buchbinder war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine häufige Praxis – wenn auch nicht für jeden.
Dies mag erklären, dass wir heute meist nur noch auf Nachdrucke aus den 1960er Jahren zurückgreifen können. Das vorliegende Digitalisat ist folglich ein besonderer Schatz! Finden Sie den Feldschwirl, bewundern Sie die Malkunst von Erich Schröder, der viele der Schwarzweißfotografien naturgetreu koloriert hat, und lesen Sie von den Eigenheiten von … ja, suchen Sie doch vielleicht dieses Exemplar: „Dazu kommt noch das ewige Schwanzwippen bei jeder Erregung, das nur aufhört, wenn der Vogel sich wirklich zur Ruhe gesetzt hat – und dann macht er leicht einen etwas verschlafenen Eindruck.“ (2) Oskar Heinroth ist bei allem Fachwissen ein wunderbarer Erzähler!
Und vielleicht halten Sie ab jetzt beim nächsten Waldspaziergang so wie ich hoffnungsvoll die Augen und Ohren noch weiter offen als sonst! (2)
Sollten Sie Lust bekommen haben, meine bisherigen Beiträge über historische Bücher zu preußischem Obst, Frauen in den 1920er Jahren, Motorradpflege, historische Spielvergnügen oder über studentisches Kochen zu lesen, dann würde ich mich sehr freuen!
Literatur
Heinroth, Oskar und Magdalena: Die Vögel Mitteleuropas. 4 Bände 1926 – 1931
Heinroth, Oskar und Ludwig Koch (Hrsg): Gefiederte Meistersänger: das erste tönende lehr- und Hilfsbuch zur Beobachtung und Bestimmung der heimischen Vogelwelt. 1935.
Signatur: 1 B 209815 – Nur im Lesesaal verfügbar!
Schulze-Hagen, Karl, und Kaiser, Gabriele: Die Vogel-WG. Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung. Signatur: Hs LS PJ 712 – Nur im Lesesaal!
Eine Zusammenfassung von Leben und Wirken des Ehepaars Heinroth. Knesebeck GmbH & Co. Verlag KG, München 2020
Heinroth, Katharina: Oskar Heinroth. Vater der Verhaltensforschung 1871 – 1945.
Signatur: Ser. 135 Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 1971.
Ich habe nie etwas gelesen, was mir die Schrecken des Krieges näher gebracht hätte.
Rühl, Paula: Erinnerungen an Magdalena Heinroth. Journal für Ornithologie LXXX Heft 4, 1932. Aufsatz (online)
Natürlich hat Oskar Heinroth noch viel mehr geschrieben – das können Sie im Stabikat leicht selbst herausfinden!
Fußnoten
Alle Abbildungen sind den jeweiligen Bänden entnommen.
(1) Rühl, S. 547
(2) Wie wäre es mit Vogelbeobachtungen zur „Stunde der Gartenvögel“ des NABU? Dabei wären doch auch Kenntnisse von Vogelrufen nützlich: Heinroth und Koch (1935) helfen Ihnen gerne!













Gwendolyn Mertz
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