Das Rätsel der polnischen Zwerge

O krasnoludkach i o sierotce Marysi (dt.: Von Zwergen und der Waise Maria) lautet der Titel eines bekannten polnischen Bilderbuchs, das seit fast 130 Jahren auf dem Buchmarkt präsent ist und der Forschung einige Rätsel aufgab. Wieder und wieder ist Maria Konopnickas Märchen vom armen Waisenmädchen und den hilfsbereiten Zwergen neu aufgelegt worden. Über die Jahrzehnte wechselten die Illustrationen.

Konopnicka, Maria: O krasnoludkach i o sierotce Marysi : z 12-ma rycinami kolorowemi, 1896. Originalausg. im Bestand der polnischen Nationalbibliothek

Konopnicka, Maria: O krasnoludkach i o sierotce Marysi : z 12-ma rycinami kolorowemi, 1896.
Originalausg. im Bestand der polnischen Nationalbibliothek

Von der Originalausgabe mit ihren zeitgenössischen Lithografien des späten 19. Jahrhunderts verlor sich irgendwann jede Spur, so dass bereits angezweifelt wurde, ob es eine Ausgabe aus dem Jahr 1896 überhaupt je gegeben habe. Aber es ist einfach so, wie die Kolleg:innen der polnischen Nationalbibliothek schrieben: „Bücher für Kleinkinder haben ein kurzes Leben, schließlich lesen Kinder nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Händen.“ [Jak ratowaliśmy krasnoludki i sierotkę Marysię, 2018]

Die Originalausgabe von Michał Arct zählt zu den Rarissima der polnischen Kinderliteratur. Ein Exemplar blieb in der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg erhalten, die zur Jahrhundertwende das Pflichtexemplarrecht für das ins Zarenreich integrierte Weichselland hatte. Aufgrund dieses Exemplars konnten sich die Warschauer Bibliothekar:innen ein Bild machen, wie die Ausgabe aussehen musste, nach der sie suchen wollten. 2016 wurde schließlich ein vollständiges und recht gut erhaltenes Exemplar ausfindig gemacht, und Hanna Wiejacz, die Erwerbungsleiterin der polnischen Nationalbibliothek, konnte den Besitzer überreden, den Band von der Auktion zurückzuziehen.

Der Band weist 1896 als Erscheinungsjahr aus. Tatsächlich brachte Michał Arct, der umtriebige Warschauer Verleger, das Büchlein aber bereits vor Weihnachten 1895 auf den Markt. Ein kluger Schachzug, so steht zu vermuten, denn mit ihrer Kombination aus Märchenelementen und polnischem Lokalkolorit hatte Maria Konopnicka auf lange Sicht gar einen „Longseller“ geschaffen.

Nach unzähligen Ausgaben mit den unterschiedlichsten Illustrationen erschien 2016 im Verlag Graf_ika ein Nachdruck der Originalausgabe (ISBN 978-83-943522-5-7), sieben Jahre später musste mit einer 2. Auflage nachgelegt werden (ISBN 978-83-8244-085-0).

Ein werter Gast. - Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 9Konopnicka: Tafel 5

Ein werter Gast. – Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 9, 1887
Konopnicka: Tafel 5

Doch während der trotz seines üppigen Gehalts an Motiven, Charakteren, Gefühlen und Werten recht schlicht gehaltene Text auch nach fast 130 Jahren für die polnische Leserschaft noch stimmig wirkt, ließen die 12 ganzseitigen Illustrationen der Originalausgabe die Betrachtenden stutzen. Warum wechselt z.B. der Zwergenkönig völlig unvermittelt im Buch die Kleidung? Gerade in einem Bilderbuch für kleine Kinder ist das doch ungewöhnlich. Für Joanna Piekarska, die Collectionmanagerin der polnischen Nationalbibliothek, hatten die Zwerge auch eher die Anmutung winziger deutscher Bergleute. Waren diese Illustrationen wirklich eigens für den Text geschaffen worden? Oder wie fanden Bilder und Text zusammen?

Die Forschungsgruppe für Kinderliteratur und -kultur unter der Leitung der Rektorin der Adam-Mickiewicz-Universität, Prof. Bogumiła Kaniewska, entwickelte in einem Seminar über Maria Konopnicka im Juni 2022 erste Hypothesen über die Herkunft der Illustrationen. Zwei Monate später wandten sich die Forscherinnen Dr. Anna Czernow und Dr. Aleksandra Wieczorkiewicz an die Kinder- und Jugendbuchabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – PK, um die Bände der Kinder-Gartenlaube : farbig illustrierte Zeitschrift zur Unterhaltung und Belehrung der Jugend im Alter von 7 bis 15 Jahren einzusehen. Mit Hilfe dieser Zeitschrift, die nur fünf Jahre lang – zwischen 1886 und 1891 – in Nürnberg verlegt wurde, konnte das Rätsel der befremdlich anmutenden Zwerge gelöst werden. Sämtliche Illustrationen finden sich in diesen Bänden! Das Cover beispielsweise diente zuvor als Illustration des Umschlags von Heft 8 (Band 3) der Kinder-Gartenlaube aus dem Jahre 1887.

Bei der Fee Rateklug. - Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 8Konopnicka: Tafel 8

Bei der Fee Rateklug. – Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 8, 1887
Konopnicka: Tafel 8

Es sieht so aus, als habe der Warschauer Verleger Michał Arct (1840-1916), der als junger Mann vier Jahre in B. Behr’s Verlag in Berlin gearbeitet hatte, gute Beziehungen zu deutschen Verlegern gepflegt und so im – seinerzeit sehr gängigen – Klischeehandel die Illustrationen erworben. Anschließend konnte er die erfolgreiche Autorin Maria Konopnicka dafür gewinnen, eine Geschichte zu den zwölf Bildern zu schreiben.

Vieles bleibt bisher leider hypothetisch, da das Verlagsarchiv von Michał Arct im Krieg größtenteils zerstört wurde. In der nächsten Ausgabe der Vierteljahresschrift Pamiętnik Literacki, der angesehensten, ältesten Fachzeitschrift für Polenstudien, werden Prof. Katarzyna Krzak-Weiss, Dr. Anna Czernow und Dr. Aleksandra Wieczorkiewicz erstmals über ihre Forschungsergebnisse berichten. (Ein Exzerpt des Aufsatzes kann bereits über ResearchGate eingesehen bzw. heruntergeladen werden!) Darüber hinaus soll die Entdeckung im Rahmen der Poznań Polish Studies im Kontext des Schreibens zu Bildern im 19. Jahrhundert vorgestellt werden. Ein Beitrag in der US-amerikanischen Fachzeitschrift Book History befindet sich ebenfalls in Vorbereitung.

Wir freuen uns, dass wir diesen Sensationsfund in unserem Lesesaal ein bisschen begleiten und unterstützen durften und wünschen den Forscherinnen, Dr. Anna Czernow und Dr. Aleksandra Wieczorkiewicz, weiterhin riesigen Erfolg mit den Zwergen – und darüber hinaus!

Verschiedene Ausgaben von Maria Konopnickas Märchen

Verschiedene Ausgaben von Maria Konopnickas Märchen im Bestand der Kinder- und Jugendbuchabteilung – und die Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 8 von 1887

Wer sich nun von der Vielfalt der Zwerge, die zu Maria Konopnickas Märchen entstanden sind, selbst ein Bild machen möchte, bestelle bitte einen oder mehrere der folgenden Titel zur Lektüre in den Handschriften-Lesesaal: SBB StaBiKat. Die Originalausgabe von 1896 kann auf den Webseiten der polnischen Nationalbibliothek als Digitalisat durchblättert werden: O krasnoludkach i o sierotce Marysi : z 12-ma rycinami kolorowemi | Polona

 

 

 

Tanz in der Maiennacht. - Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 10 Konopnicka: Tafel 9

Tanz in der Maiennacht. – Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 10, 1887
Konopnicka: Tafel 9

Naschgretchen. - Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 12 Konopnicka: Tafel 12

Naschgretchen. – Kinder-Gartenlaube Bd. 3, Nr. 12, 1887
Konopnicka: Tafel 12

Weitere Informationen finden Sie auf den Webseiten:

 > des Verlags Graf_ika

> der polnischen Nationalbibliothek

> der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen

 

 

 

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