Ein Geschenk zum 111. Geburtstag des GW
„Am 28. November 1904 hatte der preußische Ministerialdirektor Friedrich Althoff eine Reihe hochrangiger Bibliothekare in eine ‚Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke‘ berufen, die, parallel zum ‚Preußischen‘ und später ‚Deutschen‘ Gesamtkatalog, die Katalogisierung des Inkunabelbesitzes in den Bibliotheken der deutschen Einzelstaaten einleiten und überwachen sollte“ – so schrieb Holger Nickel, der damalige Leiter des GW und des Inkunabelreferats der Staatsbibliothek, im Gutenberg-Jahrbuch 2006, in dem die Ergebnisse der Jubiläumstagung zum 100. Geburtstag des GW 2004 publiziert wurden.
Am 30. November 1904 informierte der frisch berufene Vorsitzende Konrad Haebler brieflich diverse potentielle Mitglieder der Kommission und lud sie zur Mitwirkung ein; ein Muster des Anschreibens hat sich im Archiv des GW erhalten. In diesen Novembertagen können wir mithin ein „Schnapszahl-Jubiläum“ begehen: 111 Jahre sind seit der Gründung des GW vergangen (und 90 Jahre seit Erscheinen des ersten Bandes, der u.a. die GW-Nummer 111 enthält). Wir wollen an dieser Stelle keinen ausführlichen historischen Rückblick wagen, sondern uns zunächst bei den vielen Nutzerinnen und Nutzern des gedruckten Gesamtkatalogs und der GW-Datenbank bedanken, vor allem bei den Kolleginnen und Kollegen aus Bibliothek und Wissenschaft, die unsere Arbeit über die Jahre und Jahrzehnte hinweg mit Rat und Tat begleitet, durch Mitteilungen, Auskünfte, Hinweise, Nachfragen und Zweifel, durch aktive bibliographische Mitarbeit und durch die Überlassung von Materialien unterstützt haben. Es ist im Wesentlichen ein Verdienst der internationalen incunabula community, dass der GW – in beiden medialen Ausprägungen – das führende Auskunfts- und Rechercheinstrument für alle Fragen und Forschungen zum Buchdruck des 15. Jahrhunderts geworden und geblieben ist. Danke!
Gefeiert wurde in der GW-Redaktion zwar (noch) nicht groß, aber ein „Geschenk“ musste freilich trotzdem her. Und es kam auch eines: Pünktlich zum Jubelfest konnten wir eine sehr schöne und recht seltene Inkunabel erwerben: Jacobus de Voragine, Sermones de tempore et de sanctis, Deventer: Richard Paffraet, 6. März 1483 (GW M11659), vermutlich die erste lateinische Ausgabe dieses umfangreichen Predigtzyklus überhaupt. Die Erwerbung ist zunächst aus einem aktuellen Grund von Bedeutung, denn derzeit wird der GW-Artikel ‚Jacobus de Voragine‘ für den Druck vorbereitet, und das neu erworbene Stück kann nun der bibliographischen Beschreibung im GW als Vorlage dienen – das ist für die Typenbestimmer und Bearbeiter immer erheblich effizienter und angenehmer, als mit Digitalisaten, Kopien oder gar Mikrofilmen arbeiten zu müssen.
Zum anderen ist das umfangreiche Buch (480 Blatt im Folioformat) aus zwei weiteren Gründen bemerkenswert: zum einen wegen seines gut erhaltenen zeitgenössischen Einbandes, den wir demnächst noch näher bestimmen werden; zum anderen wegen seiner spannenden Provenienzen.
Laut Eintrag auf Bl. 1a war das Buch zunächst im Besitz von Johannes Oligsliger (Ölschläger), Vikar an dem berühmten Kanonissenstift Liebfrauen-Überwasser, der ältesten Kirche von Münster. Oligsliger, so berichtet der Eintrag weiter, starb am Tag nach Aegidii, dem 2. September 1494 – dieser Termin findet sich auch in einem zeitgenössischen Nekrolog des Stifts Liesborn (Nachweis in der Datenbank der Germania Sacra). Er vermachte den Band testamentarisch einem observanten Franziskanerkonvent, dessen Namen als Hammone zu lesen ist. Das kann laut Graesses Orbis latinus zwei Orte bezeichnen: Hamm in Westfalen einerseits, Hamburg andererseits. Da es in Hamm seit 1454 einen observanten Minoritenkonvent gab (die Hamburger Franziskaner gehörten zu einem anderen Reformzweig dieses Bettelordens) und wegen der geographischen Nähe zu Münster plädiere ich für eine Identifizierung mit der westfälischen Stadt. Aus der im Zuge des Kulturkampfs zerstreuten Bibliothek des 1885 aufgelösten Minoritenkonvents St. Agnes in Hamm weist der Incunabula Provenance Index unter der Nummer 00002787 einige weitere Inkunabeln nach, zumeist in der Bodleian Library Oxford. Ein herzlicher Dank an Prof. Dr. Volker Honemann (Berlin) den allerersten Benutzer der Neuerwerbung, für entscheidende Hinweise zur Provenienz, und an Dr. Paul Needham (Princeton) für weitere Informationen.
Das weitere Schicksal des Exemplars liegt im Dunkeln, erst im 20. Jahrhundert lässt es sich wieder nachweisen, und zwar gewissermaßen erneut „Überwasser“: auf der anderen Seite des Atlantiks nämlich, in der Bibliothek des General Theological Seminary in New York. Aus dieser Sammlung wurden am 1. Oktober 1980 zahlreiche Inkunabeln bei Christie’s (NY) versteigert, unser Band war in der Auktion die Nr. 19. Am 14. Dezember 2000 gelangte er durch eine weitere Christie’s-Auktion an den Antiquar H. P. Kraus und kam am 4./5. Dezember 2003 beim „Inventory of H. P. Kraus sale“ erneut unter den Hammer, diesmal bei Sotheby’s (Nr. 353), fand aber zunächst keinen Käufer. Schließlich „erbarmte“ sich der berühmte Bibliophile Helmut N. Friedlaender (1913-2008). Friedlaender war 1933 vor den Nationalsozialisten geflohen und kam über die Niederlande und die Schweiz in die USA, wo es ihm nach und nach gelang, eine illustre Sammlung mittelalterlicher Handschriften und früher Drucke zusammenzutragen, die er zwar im April 2001 versteigern ließ, unmittelbar danach begann er indes damit, eine neue Sammlung aufzubauen. Friedlaender stammte ursprünglich aus Berlin, und eine seiner Töchter hat uns anlässlich der Erwerbung wissen lassen: „I know that Dad would be utterly delighted to know that part of his collection is in the SBB“.
Auch wir freuen uns, dass der Band am Ende einer langen Provenienzgeschichte angekommen ist und nun die Inkunabelsammlung der Staatsbibliothek bereichert. Da bislang noch kein Exemplar dieser Ausgabe online zur Verfügung steht, erfolgt demnächst eine Bereitstellung in unseren Digitalisierten Sammlungen.
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