Jüdisches Kinderleben im Spiegel jüdischer Kinderbücher vom 15. November 2002 bis 11. Januar 2003
Mit rund 250 Fibeln, Kinderkalendern, Erzählungen und religiösen Schriften ‑ erschienen in Deutschland zwischen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dem Jahr 1938 ‑ gibt jetzt eine Ausstellung des Seminars für Jüdische Studien der Universität Oldenburg, der Universitätsbibliothek Oldenburg sowie des Kindheitsmuseums Marburg einen breiten Einblick in die Bildung und Erziehung jüdischer Heranwachsender in der Zeit der Aufklärung bis zu deren offener Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung in Europa.
Die unter dem Titel „Jüdisches Kinderleben im Spiegel jüdischer Kinderbücher“ gezeigten Exponate vermögen auch noch heute breite Kenntnisse über das Judentum, die jüdische Religion, die Geschichte des israelischen Volkes, das jüdische Brauchtum und dessen Wurzeln zu vermitteln sowie die Besonderheiten der jüdischen Kultur und Lebenswelt verständlich zu machen.
Die Ausstellung war seit ihrer ersten Präsentation 1998 bereits in Montreal, Saloniki und Frankfurt am Main zu sehen. Sie basiert auf der wertvollen Sammlung jüdischer Kinderbücher der Pädagogik‑Professorin Helge‑Ulrike Hyams und wird ergänzt durch Bestände der Universitätsbibliothek Oldenburg, der Staatsbibliothek zu Berlin und Leihgaben zahlreicher anderer Bibliotheken.
Zu den wertvollsten Stücken gehören die „Haggadah shel Pessach“ aus dem Jahre 1667, das „Neue ABC‑Buch“ aus dem Jahre 1702 und David Friedländers berühmtes „Lesebuch für jüdische Kinder“, das 1779 in Berlin erschienen ist.
In dreizehn Abschnitten werden die Kinderbücher aus unterschiedlichen thematischen Bereichen, darunter Sachbücher, Biographien und Märchenbücher vorgestellt. Im Märchen „Der Pessachknödel“ aus dem von Ilse Herlinger verfassten und 1928 veröffentlichten Sammelband „Jüdische Kindermärchen“ wird beispielsweise von Malvi, einem selbstsüchtigen Mädchen erzählt, das, weil es zum Pessach‑Fest den größten Knödel fordert, auf eine seltsame Reise geschickt wird. Malvi trifft auf dieser Reise ihr Ebenbild und wird sich ihrer persönlichen Unzulänglichkeiten bewusst. Gewandelt kehrt sie nach Hause zurück.
Die Ausstellung vermittelt einen Einblick in die durch Religion und Tradition geprägte jüdische Kultur in Deutschland und eröffnet die Möglichkeit, die mit dem nationalsozialistischen Terror gegen die Juden zerstörte jüdische Geschichte wiederzuentdecken.
Der Katalog zur Ausstellung besteht aus zwei Bänden. Der erste Teil enthält wissenschaftliche Beiträge von 24 Autorinnen und Autoren, die jüdische Kindheit und jüdische Kinderbücher in verschiedenen Epochen untersuchen.
Den zweiten Teil bildet eine annotierte Bibliographie der Exponate. Die bibliographischen Informationen und ausführlichen Beschreibungen zu den Büchern werden durch reiches Bildmaterial ergänzt. Der Katalog kostet in der Ausstellung 30,‑ Euro.
Hintergrundinformationen
Für die Juden in Deutschland bedeutete die mit der Aufklärung eingeleitete Entwicklung, dass es möglich und notwendig wurde, aus der ihr Leben bestimmenden Abgeschiedenheit des „Ghettos“ zu treten und sich der überwiegend christlichen Welt der Neuzeit zu öffnen.
Die anzustrebende wechselseitige Akzeptanz setzte voraus, dass die verschiedenen Auffassungen, Geisteshaltungen und damit verbundenen Gedanken und Erlebniswelten sowie Werte und Brauchtum untereinander bekannt gemacht wurden. Dieser Prozess der gegenseitigen bewussten Kenntnisnahme wurde geprägt von den großen Persönlichkeiten der deutschen Geistesgeschichte wie Johann Gottfried Herder, Gotthilf Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn, die sich mit ihren kosmopolitischen Grundüberzeugungen gegen die verengten Sichtweisen der Zeit des Absolutismus, des Pietismus und der Orthodoxie stellten. Diese neue gegenseitige geistige Aufgeschlossenheit hatte gravierende Folgen, indem sich in den jüdischen Gemeinden unterschiedliche Gruppierungen bildeten.
Aus einem über Jahrzehnte dauernden Prozess entstanden voneinander getrennte jüdische Identitäten: einmal die assimilierten Juden, die sich der christlichen Umwelt angleichen wollten; zum anderen die reformorientierten Juden, die sich unter Beibehaltung ihrer Werte und Normen den Bedingungen der moderneren bürgerlichen Welt öffnen wollten; und schließlich die orthodoxen Juden, die in jeglicher Reform und Annäherung an die andersgläubige Umwelt eine Gefahr für den Bestand des Judentums sahen. Das hatte selbstverständlich auch Auswirkungen auf die Kinder und Jugendlichen in den jüdischen Gemeinden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts löste sich die Mehrheit der Juden aus den streng gläubigen Traditionen und integrierte sich in ihr bürgerliches Umfeld.
Die Grundlagen dafür wurden über die schulische Ausbildung gelegt, besonders nachdem auch für die Kinder aus jüdischen Familien die allgemeine Schulpflicht galt. Die aus der Aufklärung stammende Bereitschaft, sich auch in säkularen Fächern schulisch zu bilden, setzte sich als Selbstverständlichkeit für die Lebensplanung junger Juden durch.
Unterstützt wurden diese Bestrebungen durch die in Städten mit einem größeren jüdischen Bevölkerungsanteil wie Berlin, Frankfurt, Breslau oder Hamburg eingerichteten Schulen, die der Reformierung des jüdischen Lebens außerhalb des bis dahin vorhandenen Umgangs im Ghetto dienen und die Möglichkeit der Behauptung in der bürgerlichen Umwelt sicherstellen sollten. Mit dem nun üblichen Zusammenleben der Kinder in den Schulen wurden völlig neue Akzente gesetzt, die der Öffnung in die Moderne entsprach.
Jude, Deutscher und Weltbürger
Jüdisches Kinderleben spielte sich zwar nach wie vor in großen Anteilen in den Familien ab, und die bis dahin gepflegten Glaubensäußerungen, die Feste und Feiern, das Brauchtum und die Gedankenwelten blieben erhalten. Dennoch wurde der feste Regelkreis der Vorschriften aus Tora und Talmud aufgelockert und damit für Kinder auch erweitert. Mehr und mehr glich sich der Lebenskreis junger Juden dem ihrer zumeist christlichen Umwelt an.
Das galt für die meisten jüdischen Familien, auch wenn sich aus neu orthodoxen Kreisen bedeutende Stimmen erhoben, die auf den Reichtum, den tiefen Humanismus und die historische Bedeutung der jüdischen Kultur verwiesen.
Der so entstandene inhaltliche Zwiespalt hat bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade die Intellektuellen im europäischen Judentum beeinflusst, auch oftmals in gesellschaftliche Konflikte gebracht. Denn die Veränderungen der Zeit, die auch die Kinder und Jugendlichen betrafen, forderten ein fortwährendes Klären dessen, was man sein wollte.
Jude und Deutscher und Weltbürger zugleich zu sein, mit dem berechtigten Bewusstsein einer weltumspannenden und die Menschheit umfassenden Geschichte im religiösen Selbstverständnis markierten den Spannungsbogen, der gelebt und ausgehalten werden musste.
Dabei gab es im Laufe der Entwicklung Deutschlands zur Industriegesellschaft und zum Nationalstaat zugleich eine eindeutige Gewichtsverlagerung hin zum Deutschsein. Die Kontakte, die Kinder und Jugendliche in die Umwelt hinein pflegten, verstärkten diesen Prozess nicht selten bis zur vollkommenen Angleichung. Dabei spielte die politische Entwicklung hin zur Gleichberechtigung eine ebenso entscheidende Rolle, wie das sich gegenseitige Kennenlernen und Akzeptieren über die Jahrzehnte hinweg nach der konsequenten Öffnung des Ghettos. Eine ungemein wechselseitige Kulturbereicherung ist daraus entstanden, die sich im Kinderleben und in Kinderbüchern widerspiegelt.
Vermittlung von Grundwerten
Die um ihre Eigenständigkeit ringenden Juden haben seit der Aufklärung eine reichhaltige Literatur für Kinder aus Familien jüdischer Herkunft hervorgebracht, die mit ihren unterschiedlichen Anliegen, von der Belehrung bis hin zur reinen Unterhaltung, immer daran festhielt, Kenntnisse über das Judentum so zu vermitteln, dass sich aus der Beschäftigung damit auch die Möglichkeiten der persönlichen und damit ethischen Identifikation ergeben konnte.
Die beeindruckende Vielfalt der Buchproduktion ist ein besonders wertvoller Bestandteil jüdischer Kultur in der deutsch jüdischen Symbiose, weil sie mit dem Festhalten an den tiefen historischen Wurzeln des Glaubens und der Wertvorstellungen ein Beispiel liefert für die notwendige Vermittlung von Grundwerten und Überzeugungen, die dem menschlichen Antlitz in einer sich stetig und rasant verändernden Welt einen humanen Ausdruck sichern hilft.
15. November 2002 – 11. Januar 2003
Vestibül
Haus Unter den Linden 8, Berlin-Mitte
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