Kopf oder Zahl …oder beides? Die Grundinstandsetzung der Staatsbibliothek zu Berlin in Zahlen
Ein Beitrag von Jens Andreae, Referent und Projektleiter für die Grundinstandsetzung und Erweiterung des Hauses Unter den Linden beim Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung
Die Metapher von der anderen Seite der Medaille hat in Bezug auf Sanierungskosten einer großen Bibliothek einen ganz besonderen Reiz, vor allem, wenn man sich besagte Medaille als große Münze vorstellt: auf der einen Seite die schwindelerregend große Zahl – 470 Mio. € -, und auf der anderen einen Kopf, dessen gewöhnliche Eigenart es ja ist, Hirn und Geist zu beherbergen. Im Falle der Staatsbibliothek fällt es nicht schwer, sich diesen Kopf als Sinnbild für ihre einzigartigen Bestände und deren allgemeine Verfügbarkeit vorzustellen: Über 11 Millionen Bände, 2,2 Millionen weitere Druckwerke, über 1.600 Nachlässe, 321.000 Autographe, umfangreiche Sondersammlungen, unter anderem 1,1 Millionen Karten, 42.000 orientalische Handschriften und 66.700 Musikautographe, darunter 80% aller Handschriften von J. S. Bach und die weltweit größte Mozart-Sammlung… sie ist die größte wissenschaftliche Universalbibliothek im deutschsprachigen Raum, sie ist Teil unseres kollektiven Gedächtnisses, Abbild unserer kulturellen Wurzeln und Identität; sie ist guten Gewissens jeder Investition wert, die wir für ihren Fortbestand aufbringen können. Haben wir uns derart entspannt, fällt es sehr viel leichter, die unverschämte Summe der Sanierungskosten – die andere Seite der Medaille -, einmal ganz ohne Entrüstung, ohne rhetorische Rückzugsgefechte und ohne Schuldzuweisungen zu betrachten. Eine verwegene Idee in Zeiten, da nahezu jedes große öffentliche Bauvorhaben fast ausschließlich danach beurteilt wird, ob eine anfangs in der Öffentlichkeit verbreitete Kostenangabe, meist ein Budget ohne Berücksichtigung von Preissteigerungen und Unvorhergesehenem, ´eingehalten´ wurde oder nicht.
Beginnen wir die Betrachtung der großen Zahl mit der ketzerischen Frage, ob denn das ganze wertvolle Erbe nicht kostengünstiger in einem anderen Gebäude, am besten in einem effizienten Neubau, gelagert und gelesen werden könnte. Die schlichte Antwort ist Ja. Sicher hätte man für die gleiche Summe, oder sogar weniger, einen solchen Neubau errichten können. Was aber hätte in diesem Fall mit dem Bestandsgebäude geschehen sollen? Dieses Gebäude ist so sehr auf seinen Zweck zugeschnitten, dass es kaum anders genutzt werden kann. Abgesehen davon lässt sich das Bedürfnis nach Erhalt des kulturellen Erbes nicht einfach auf Gedrucktes oder Geschriebenes beschränken, sondern betrifft natürlich ebenso das Gebaute. Für das eine gibt es klimatisierte Magazine, für das andere den Denkmalschutz. Und auf dessen Liste steht die Staatsbibliothek Unter den Linden ganz oben. Es ist einer der letzten wilhelminischen Repräsentationsbauten überhaupt und markiert eindrucksvoll das Ende einer Epoche im Bibliotheksbau: Eine opulente Inszenierung von sich fortlaufend in ihrer Wirkung steigernden Monumentalräumen, mit einem zentralen Lesesaal als Höhepunkt, dessen Kuppel größer war als die des Berliner Doms. Eine steinerne Demonstration der Verehrung des Wissens und der Macht desjenigen, der darüber verfügt.
Mit der Instandsetzung der Bausubstanz war es leider nicht getan; das erhaltene Gebäude war nur der nach Kriegszerstörung übrig gebliebene und vielfach geflickte Torso, ein zwar irgendwie lebensfähiger, aber eben auch ziemlich reparaturbedürftiger Organismus. Die größte Wunde, die es zu schließen galt, war ausgerechnet das Zentrum des Hauses, der Ort des kriegszerstörten und 1975 abgetragenen zentralen Lesesaals. Hier ein neues Herz zu implantieren, war Hauptaufgabe des 1999 ausgelobten Architekturwettbewerbs. Viele und sehr verschiedene Ideen wurden leidenschaftlich diskutiert, bevor sich schließlich ein Konzept durchsetzte, das den Respekt vor dem Bestand nicht nur auf den physischen Erhalt von Oberflächen, Ornamenten oder anderen Spuren der Geschichte beschränkte, sondern auch Funktionalität und Organisationsstruktur des Bestandsgebäudes beibehielt. Die monumentale Erschließungsachse erhält ihre alte Funktion zurück und architektonischer Höhepunkt des Hauses ist ein neuer zentraler Lesesaal am Ort des alten. Die Verehrung des Wissens wird wieder inszeniert, nur derjenige, der darüber verfügt, ist heute offensichtlich ein anderer; die Gestaltung des neuen Lesesaals ist folglich eine klare Gegenthese zur früheren Monumentalität.
Das Prinzip der klar erkennbaren, sich aber in das architektonische Konzept des Bestandsgebäudes einfügenden Ergänzung, fand Anwendung von der Gestaltung der großen Räume bis hin zu Restaurierungen prägender Ornamente. Beispielsweise wurde anstelle des verlorenen Tonnengewölbes der Haupttreppenhalle ein neues ergänzt, in gleicher Geometrie, aber mit neu gestalteter Oberfläche. Überall dort, wo Originalsubstanz überwiegend erhalten war, wurde instandgesetzt und restauriert. In der Treppenhalle wie auch in allen repräsentativen Treppenhäusern betrifft das vor allem die für die Erbauungszeit typischen Steinputzflächen. Das Ausbessern kleinerer Risse oder Fehlstellen klingt zunächst nach Kosmetik, ist aber in Wahrheit ein aufwändiges und diffiziles Unterfangen. Die richtigen Zuschlagstoffe, um unschöne Verfärbungen durch chemische Reaktionen mit angrenzenden Bestandsputzflächen zu vermeiden, mussten erst ermittelt, das heißt an nicht wenigen Musterflächen ausprobiert werden. Und natürlich wurden während der Arbeiten unerkannte Hohlstellen gefunden, sogar Hohlräume in scheinbar massiven Wänden, die dann auch den Architekten, Brandschutzingenieur und Statiker beschäftigt haben… Und so bekommt die abstrakte große Zahl langsam Substanz. Wirklich schwierig wurde es dort, wo es heute niemand mehr sieht: Oberhalb der Treppenhalle, montiert auf acht großen Stahlfachwerkträgern, befinden sich vier Etagen Lipman-Magazine, denkmalgeschützt und in situ zu erhalten. Besagte Träger auszutauschen war nur möglich, indem die einzelnen Elemente der neuen Träger einzeln durch eine Öffnung in der Wand eingefädelt und an Ort und Stelle Stück für Stück zu Fachwerkträgern verschraubt wurden.
Ein erheblicher Teil der großen Summe ist in technische Anlagen investiert worden, um aus der baulichen Hülle eine funktionierende große Forschungsbibliothek werden zu lassen, mit optimalen Bedingungen für die Bestände und Besucher. Um das Erscheinungsbild der monumentalen Hallen und Treppenhäuser, der acht Lesesäle und der Veranstaltungssäle nicht zu beeinträchtigen, bleibt die überall im Gebäude installierte Technik weitgehend unsichtbar. Das bedeutet: Rauchansaugsysteme mit winzigen Öffnungen anstelle der üblichen Brandmelder, in Holzvertäfelungen versteckte Lüftungsöffnungen, Temperaturfühler, Strom- und Datenleitungen, eine weitverzweigte Gebäudefunkanlage für die Feuerwehr… Für hinreichend stabile Temperaturen und relative Luftfeuchten wurden in den Lipmanmagazinen mit einigem Aufwand Klimaanlagen installiert. Die lichte Raumhöhe in diesem bis zu siebenstöckigen Hochregallager, das neben den Regalböden auch die Geschossdecken und das Dach trägt, ist mit etwas über zwei Meter lediglich an der Erreichbarkeit des obersten Regalbodens orientiert. An Lüftungskanäle hatte man zu Kaisers Zeiten eher weniger gedacht. Auch die Installation einer Buchtransportanlage (Bänder von 1.500 m Länge und 17 Aufzüge) war in diesem dichten Regalgerüst alles andere als einfach. Originalgetreue Nachbauten der riesigen straßenseitigen Fenster erfüllen heute Brandschutzfunktionen (als automatische Rauchabzüge). Auch in das größte dieser Fenster – es ist über acht Meter hoch – sind motorische Öffnungsmechanismen integriert worden; es ist heute der ganze Stolz der ausführenden Tischlerfirma.
All das steht exemplarisch für eine Vielzahl äußerst anspruchsvoller Tätigkeiten in so ziemlich jedem Winkel des Gebäudes, und so entsteht hinter der nüchternen Gesamtsumme das diffuse Bild einer ungeheuren Komplexität und einer kaum überschaubaren Anzahl einzelner Arbeitsschritte und Maßnahmen. Nicht wenige davon konnten überhaupt erst während der Baudurchführung als erforderlich erkannt und in das Projekt eingesteuert werden, etwa wenn der Zustand der Bausubstanz ein anderer war, als dokumentiert oder nach den nur stichprobenhaft möglichen Bestandsuntersuchungen erwartet. Die große Sanierung ist kein fertig geschnürtes Paket, das man zum Festpreis im Baumarkt erwerben kann. Sie ist vielmehr die Überschrift für ein vielschichtiges System, die Zusammenfassung einer großen Menge einzelner Maßnahmen, alle voneinander abhängig oder ineinander verwoben. Und so ist auch die große Zahl eine Summe vieler einzelner Bestandteile, die letztlich die Preise unzähliger erbrachter Leistungspositionen in Hunderten von Verträgen sind. Projektsteuerer, Architekten, diverse Fachingenieure, Sachverständige und Gutachter; bis heute wurden 114 Honorarverträge abgeschlossen. Vom Prüfingenieur für Brandschutz über Sachverständige für Raumakustik, Fachplaner für Leitsysteme bis hin zu einem Weingutachter, zur Überwachung des wilden Weins an der zu sanierenden Fassade des Brunnenhofes. Für die Ausführung des Geplanten sind 405 Bauaufträge (ohne Kleinaufträge) vergeben worden. Unter anderem an insgesamt 15 Rohbaufirmen, 23 Tischlereien, 10 Malerbetriebe, 12 Schlosser, 8 Bodenleger, 8 Trockenbaufirmen und 11 Firmen für Putz- und Stuckarbeiten… Dazu kommen 181 Technikverträge, beispielsweise zur Installation von Lüftungsanlagen, Elektroanlagen Brandmeldetechnik, Buchtransportanlagen, Küchentechnik, Sicherheitstechnik u.v.m. Alle diese Planer und Firmen zeichnen verantwortlich für zum Teil sehr umfangreiche Leistungspakete aus Einzelleistungen, die in die Tausende gehen. Beispielsweise umfasste die Leistungsbeschreibung des größten der 23 Tischleraufträge rund 450 Seiten.
All die geplanten Maßnahmen und Arbeitsschritte sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft, sind Voraussetzungen für Folgegewerke oder Gemeinschaftswerke verschiedener Beteiligter. Der aktuell gültige Bauablaufplan für den zweiten Bauabschnitt beispielsweise umfasst 6135 Vorgänge, etwa Fliesen- und Abdichtungsarbeiten in einem bestimmten Gebäudeteil. Einige darunter verweisen auf separate Detail-Terminpläne mit wiederum 50 oder mehr Einzelschritten. Beim Betrachten eines solchen Terminplans wird schnell deutlich, welche Auswirkungen es haben kann, wenn etwa einer der Beteiligten plötzlich ausfällt, wenn unbekannte Schäden in der Bausubstanz entdeckt werden, wenn unvorhergesehene Leistungen erforderlich werden und in dem ohnehin bereits komplexen Gewebe der Terminplanung nachträglich untergebracht werden müssen. Und in der Tat liegt in einer verlängerten Bauzeit und der währenddessen gestiegenen Baupreise ein signifikanter Bestandteil unserer großen Zahl begründet. Der Anteil der unvorhergesehenen Maßnahmen selbst ist mit 14% im zu erwartenden Rahmen.
Wie unverschämt also ist unsere große Zahl tatsächlich? Der simple Vergleich mit einem im Jahre 2003 veröffentlichten Budget, berechnet auf der Basis der damaligen Baupreise und noch ohne Unvorhergesehenes, kann darauf keine befriedigende Antwort geben. Versuchen wir es damit: Die Staatsbibliothek umfasst 107.000 m² Bruttogeschossfläche; für die Grundinstandsetzung und Erweiterung wurden etwa 4.400 €/m² (Preise von 2003 bis 2019) investiert. Im Verhältnis zu den am ehesten vergleichbaren Bauvorhaben der großen Nationalbibliotheken in Paris oder London ist das eher bescheiden. Und auch der Vergleich zu sonstigen Berliner Baupreisen zeigt nichts Außergewöhnliches. Eine Eigentumswohnung wäre zu diesen Herstellungskosten jedenfalls kein Luxus. Wenn aber dennoch jemand angesichts der ja unstrittig hohen Gesamtsumme Zweifel hegen sollte, dann drehen wir die Medaille wieder um und bewundern das älteste Druckwerk der Welt, die Gutenbergbibel, den Nachlass Alexander von Humboldts, die Originalpartituren von vier Beethovensinfonien, die wunderbare Kinder- und Jugendbuchsammlung, und vieles, vieles mehr…
Dieser Artikel erschien zuerst in BuB – Forum für Bibliothek und Information, Ausgabe 05/2019
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