O du dramatische …

 
Endlich Weihnachten!

Endlich Zeit für die Familie. Zeit für sich. Zeit für richtig lange Balladen. Denn nur wenig bietet so viel Trost wie das rhythmische Deklamieren langer Reimgetüme. Gerade in einer Stresssituation und bei Familienweihnachtsfeiern kann eine Ballade vom melodramatischen Mantra zur beflügelnden Brandrede an das eigene Ich gerieren! Keine Zeit für eine ganze Ballade? Nehmen Sie einfach ein Gedicht! Versuchen Sie es! Eine Anleitung finden Sie hier!

Da wir in einem visuellen Zeitalter leben, haben wir zur Illustration die Werke des großartigen Berliner Kindermann Verlages beigefügt, dem wir an dieser Stelle herzlich zum 30. Geburtstag gratulieren!


Heinrich Heine und Aljoscha Blau: Loreley / Signatur: 53 BB 5143

Der Weihnachtsabend beginnt, der Baum steht, die Lichter brennen und die Verwandtschaft ist am Anrollen. Seit Tagen haben Sie geputzt, eingekauft und verpackt, und nun stehen Sie da – gekämmt, festlich gekleidet, erschöpft, gänzlich lustlos und fragen sich, warum Sie sich das jedes Jahr aufs Neue antun.
Zeit für ein bisschen Selbstmitleid: 

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
dass ich so traurig bin;
din Märchen aus alten Zeiten,
das kommt mir nicht aus dem Sinn.“

Es klingelt an der Wohnungstür – es geht los! Sie sammeln sich, atmen tief durch und rufen nach Lebensgefährten und Nachwuchs. Keiner rührt sich. Sie rufen lauter. Wieder nichts. Sie beißen die Zähne zusammen, reißen die Tür auf und deklamieren:

Friedrich Schiller und Valentina Corradini: Die Kraniche des Ibykus / Signatur: 53 BB 8763

„Seid mir gegrüßt, befreundte Scharen!
Die mir zur See Begleiter waren.
Zum guten Zeichen nehm ich euch,
mein Los, es ist dem euren gleich.“

Rainer Maria Rilke und Isabel Pin: Das Karussell / Signatur: 53 BB 6192

Die hereinströmende Verwandtschaft verteilt sich in der Wohnung, einige loben den Tannenbaum, andere bemerken das neue (sicher kostspielige!) Sofa, Ihre Kernfamilie (außer der Teenager) gesellt sich dazu.  Sie betrachten das Treiben mit einem Lächeln, denn:

„Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,
ein kleines kaum begonnenes Profil -.
Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,
ein seliges, das blendet und verschwendet.“

 

Friedrich Schiller und Jacky Gleich: Der Handschuh / Signatur: 53 BB 4873

Genug gelächelt, Sie sehen den weiblichen Teil der Verwandtschaft zügig in der Küche verschwinden und jagen hinterher. Am Türrahmen stoppen Sie abrupt und sehen die Lieben um den Küchentisch versammelt, zittern kurz und denken:

„Und herum im Kreis,
von Mordsucht heiß,
lagern sich die greulichen Katzen.“

Friedrich Schiller und Willi Glasauer: Der Taucher / Signatur: 53 MB 4880Von Mordsucht heiß,

 

Was das wieder Neumodernes sein soll, fragt die Frau, die Sie neun Monate unter dem Herzen trug, und hält Ihnen anklagend den Bräter mit der veganen Weihnachtskarpfenalternative unter die Nase:


„Schwarz wimmelten da, in grausem Gemisch,
zu scheußlichen Klumpen geballt, …“

Sie lassen sich nicht reizen, Sie murmeln nach innen gerichtet:

 „Der stachligte Roche, der Klippenfisch,
 des Hammers gräuliche Ungestalt, …“

Theodor Fontane und Tobias Krejtschi: Die Brück‘ am Tay

 

Die Schwiegermutter beäugt mit hochgezogenen Augenbrauen die variationsarme Auswahl an selbstgebackenen Plätzchen, bevor sie eins nimmt und klagt:


„Hei! Wie Splitter brach das Gebälk entzwei!“
„Tand, Tand, ist Gebilde von Menschenhand“,

Theodor Fontane und Tobias Krejtschi: John Maynard / Signatur: 53 BB 6087

antworten Sie leichthin, bevor Sie aus der Küche eilen, nicht aber ohne ihre Schwiegermutter noch vernehmlich tadeln zu hören:

„Ein Dienst nur, den sie heute hat!“,

Christian Morgenstern und Pe Grigo: Ostergedicht

und Ihre Großtante Margret bemerkt:

„Seht, seht, selbst dort sind welche!“

 

Siedend heiß fällt Ihnen ein, dass Sie die leeren Weinflaschen aus der Weihnachtsvorbereitungszeit nicht zum Glascontainer getragen haben.

Den Rumor, der hinter Ihrem Rücken nun beginnt, kennen Sie schon von vorherigen Festen; mitgebrachte Lebensmittel werden in Ihrer Küche fertig gegart, damit es so schön und kulinarisch wie alle Jahre wird. Fatalistisch seufzen Sie:

August Kopisch und Klaus Ensikat Die Heinzelmännchen von Köln

„Und gossen und panschten
und mengten und manschten.
die spülten,
die wühlten,
und mengten und mischten
und stopften und wischten.“

Rainer Maria Rilke und Julia Nüsch: Der Panther

 

Der Lebensgefährte eilt an Ihre Seite und berichtet flüsternd, dass kein Rotwein mehr im Haus sei. Sie kennen den Grund und bitten Großonkel Uwe, rasch zum Späti zu laufen und die Leere zu füllen. Onkel Uwe erhebt sich unsicher, aber bereitwillig, strafft den Rücken und geht:

„Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.“

 

Theodor Storm und Klaus Ensikat: Knecht Ruprecht / Signatur: 53 BB 9596

Einer der gefürchteten Höhepunkte des Festes naht: die Gedichtvorträge der lieben Kleinen. Sie beruhigen sich:

„Die Kinder sind wohl alle gut,
haben nur mitunter was trotzigen Mut.“

Und hoffen, dass Onkel Uwe bald zurückkehrt. Denn nach der Lyrik ist vor dem Essen. Dem Essen ohne Rotwein.

Johann Wolfgang von Goethe und Sabine Wilharm: Der Erlkönig / Signatur: 53 BB 9455

Der Zehnjährige, beraten vom großen Bruder, raunt sich durch den Erlkönig:

„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?
Siehst Vater, du den Erlkönig nicht!
Den Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.“

 

 

Annette von Droste-Hülshoff und Reinhard Michl: Der Knabe im Moor / Signatur: 53 MB 4882

Der Teenager rezitiert mit festem Blick auf die Großtante:

„Weh, weh, da ruft die verdammte Margreth;
,,Ho, ho, meine arme Seele!’’
Der Knabe springt wie ein wundes Reh,
wär’ nicht Schutzengel in der Näh’ …“

 Jambus sei Dank, es ist vorbei. Sie klatschen verhalten und finden, Tantchens selbstgestrickten Bärchenpullover, den das Balg gleich auswickeln wird, hat es sich wirklich verdient.

Die Geschenke sind auspackt, die Freude war groß, es geht zum Esstisch. Uwe und der Rotwein sind weiterhin absent.

Friedrich Schiller und Almud Kunert: Der Ring des Polykrates / Signatur: 53 BB 9544

Friedlich sitzen alle da und strahlen dem Rotkohl, den Setzkartoffeln und der Echtfleisch-Ente entgegen. Ermutigt durch die Eintracht kredenzen Sie auch die Karpfenalternative. Bei so wohlwollender Stimmung wird es doch keiner wagen, diesen Schmaus zu kritisieren! Doch noch auf der Türschwelle greift der Lebensgefährte Ihren Arm und warnt mit Blick auf den eigenen Vater:

„Der König tritt zurück mit Grauen:
«Doch warn ich dich, dem Glück zu trauen»,
versetzt er mit besorgtem Blick.
«Bedenk, auf ungetreuen Wellen,
wie leicht kann sie der Sturm zerschellen.“

Unbeirrt lassen Sie das Mahl beginnen, doch schon dürstet es dem Schwiegervater nach Rotwein. Und ob der Junior eventuell zu geizig sei … man könne ja auch gleich Wasser trinken … nicht mal ein richtiger Karpfen … gut, dass man noch ein eigenes Fläschchen mitgebracht habe …
Und Sie wiegen sich durch die Schmähungen mit:

Theodor Fontane und Bildern von Dorota Wünsch: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland / Signatur: 53 BB 9478

„Der neue freilich, der knausert und spart,
hält Park und Birnbaum strenge verwahrt.
Aber der alte, vorahnend schon
und voll Mißtraun gegen den eigenen Sohn,
der wusste genau, was damals er tat, …“

Großtante Margret nickt heftig zu den Ausführungen des Alten und erklärt – mit großem Augenaufschlag in Ihre Richtung – wäre die Jugend heutzutage nicht so selbstsüchtig und weniger weinselig, hätte der arme Uwe nicht in die Kälte hinausmüssen, um …
Sie schalten auf Durchzug, starren an Tante Margrets Kopf vorbei die Wand an und denken sehnsüchtig:

Joseph von Eichendorff und Pe Grigo: Weihnachten

„Und ich wandre aus den Mauern
bis hinaus ins freie Feld,
hehres Glänzen, heil’ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!“

Doch nun ist die schwiegerväterliche Flasche am Tisch, eine zweite atmet Bereitschaft, alle bedienen sich und speisen. Der Ansturm auf die Ente ist groß und auch der Rotkohl wird zu schnell weniger. Sie hoffen, dass es reicht und flehen innerlich:

Friedrich Schiller und Kateryna Yerokhina: Die Teilung der Erde / Signatur: 53 BB 6915

„Doch teilt euch brüderlich darein!«
Da eilt‘, was Hände hat, sich einzurichten,
es regte sich geschäftig jung und alt.“

 

Endlich!
Das Festmahl ist geschafft, Familie und Verwandte lagern schläfrig in den Polstern, keiner macht Anstalten, sich zu verabschieden. Sie denken an den Abwasch in der Küche, bleiben trotzdem sitzen und barmen:

Johann Wolfgang von Goethe und Sabine Wilharm: Der Zauberlehrling / Signatur: 53 BB 4984

„Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
werd ich nun nicht los.“

 

Stunden später.

Irgendwann ist die Verwandtschaft gegangen. Die Spülmaschine rödelt, die Weihnachtskarpfenalternative ist vollständig eingetuppert und Sie liegen langausgestreckt im Dunkeln auf dem Wohnzimmerteppich. Es ist Ihnen gleich, dass die Tannennadeln piksen, Hauptsache, Sie müssen sich nicht rühren. Denn, so denken Sie:

Johann Wolfgang von Goethe und Klaus Ensikat: Osterspaziergang / Signatur: 53 BB 7714

 
„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“
 

Da läutet es an der Wohnungstür Sturm. Sie rufen nach Ihrem Lebensgefährten. Nichts rührt sich. Es klingelt wieder. Wieder. Jetzt im Stakkato. Es ist Ihnen gleich, soll’s doch brennen. Sie hören den Teenager durch den Flur zur Tür schlurfen und Sie hoffen, dass sich das Problem von selbst löst:

Otto Ernst und Tobias Krejtschi: Nis Randers / Signatur: 53 BB 8766

 

„Und Auge und Ohr ins Dunkel gespannt . . .
Still – ruft da nicht einer? – Er schreit’s durch die Hand:
„Sagt Mutter, ’s ist Uwe!“

Wir wünschen Ihnen und Ihren Lieben ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest!

 

 

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