Forschungsprojekt „Beschlagnahmte Bücher“ – Reichstauschstelle und Preußische Staatsbibliothek zwischen 1933 und 1945. – Aspekte der Literaturversorgung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus

Projektbeteiligte
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin | Dr. Hans Erich Bödeker (Projektleitung)
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz | Gerd-Josef Bötte (Projektleitung)
Dr. Cornelia Briel – Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Max-Planck-Gesellschaft

Forschungsgegenstand
Mechanismen des systematischen Bücherraubs in der NS-Zeit 1933 bis 1945 darstellen, Funktion und Arbeitsweise der Reichstauschstelle beschreiben, Analyse der Beziehung zwischen Reichstauschstelle und der Preußischen Staatsbibliothek (heute Staatsbibliothek zu Berlin) in administrativer wie funktionaler Hinsicht
Laufzeit
Juni 2006 – November 2007


Systematische Aufarbeitung nötig

Die Anforderung und der Wunsch, die Rolle der Reichstauschstelle in der NS-Zeit zu beschreiben und historisch einzuordnen, bestanden seit langem. Jedoch konnten erst ab dem Jahr 1990 die notwendigen Akten, bis dahin zwischen beiden deutschen Staaten geteilt, sukzessive wieder zusammenfinden. Eine Vorstudie im Jahr 1999 brachte erste Erkenntnisse über die Vorgehensweise für das Projekt; parallel wurde die Nachweissituation für Erwerbungen der Preußischen Staatsbibliothek bis zum Jahre 1945 erheblich verbessert, jetzt enthält der elektronische Katalog der Bibliothek viele relevante Daten aus jener Zeit. Erst damit war es möglich, das Forschungsprojekt in einem vertretbaren Zeitrahmen durchzuführen.

Im Auftrag des früheren Max-Planck-Instituts für Geschichte (Göttingen) und der Staatsbibliothek zu Berlin werden jetzt gesicherte Informationen über die Aufgaben, Strukturen und Arbeitsweise der Reichstauschstelle sowie deren Kooperationen und Verflechtungen mit der Preußischen Staatsbibliothek und anderer Einrichtungen gesammelt. Auf dieser Grundlage wird man Fragen von Historikern, Bibliothekswissenschaftlern, Medienvertretern und nicht zuletzt von Betroffenen und deren Nachfahren zum Verbleib von Büchern seit 1933 zielgerichtet nachgehen können. – Mit dem Forschungsprojekt setzt auch die Staatsbibliothek zu Berlin die Aktivitäten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit Blick auf die Washingtoner Erklärung von 1998, die Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz (2001) sowie den Hannoverschen Appell des Symposiums Jüdischer Buchbesitz als Beutegut aus dem Jahre 2002 fort.

Die Reichstauschstelle, im Jahr 1926 auf Initiative der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (später Deutsche Forschungsgemeinschaft) durch das Reichsministerium des Innern gegründet, übernahm bis 1934 bei der überregional koordinierten Erwerbung von Literatur zentrale Funktionen für die deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken. U. a. tauschte sie Dubletten im In- und Ausland und verwertete aufgelöste Bibliotheken. 1934 wurde die Reichstauschstelle zusammen mit dem Beschaffungsamt der deutschen Bibliotheken und dem Amt für Deutsch-Ausländischen Buchtausch an der Preußischen Staatsbibliothek angesiedelt, ohne jedoch ihre Eigenständigkeit zu verlieren. An dieser funktionalen Schnittstelle zur Preußischen Staatsbibliothek setzte im letzten Jahr das Forschungsprojekt an, welches insbesondere für die letzten drei Kriegsjahre und die frühe Nachkriegszeit wichtige Ergebnisse präsentieren kann.

1943 – 1947 : Große Aktivitäten, fehlende Zäsur, Raubgut/Beutegut

Dank einer relativ guten Quellenlage – unter anderem wurden einschlägige Quellen im Bundesarchiv, im Landesarchiv Berlin, im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam, im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden, im Staatsfilialarchiv Bautzen und in der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes zum Deutsch-Ausländischen Buchtausch gesichtet – konnten zunächst drei wesentliche Erkenntnisse gewonnen werden:

  • 1. Ausgelöst durch die Zerstörung von Bibliotheken und Beständen quer durch Deutschland – 350.000 Bände Verlust in Kassel, 380.000 in Kiel, 380.000 in Karlsruhe – beauftragte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im Jahr 1943 die Reichstauschstelle, zerstörte deutsche wissenschaftliche Bibliotheken wieder aufzubauen. Die Behörde entfaltete enorme Aktivitäten, welche in ihren Dimensionen und ihrer Intensität bislang deutlich unterschätzt wurden bzw. unbekannt waren: Nach einer Umstrukturierung und einem deutlichen Ausbau der Behörde sammelten 50 Mitarbeiter über 1 Million Bücher, welche sie auf 40 eigene Depots verteilten – u. a. in der Ober- und Niederlausitz, in Thüringen, der Rhön, der Mark Brandenburg, auch in der inzwischen von eigenen Beständen leer geräumten Preußischen Staatsbibliothek, außerhalb des Deutschen Reiches auch in Straßburg, Turin, Mailand und Brünn. [Zum Vergleich: Die damals schon 280 Jahre alte Preußische Staatsbibliothek besaß Anfang der 40er Jahre 3 Millionen Bände, die ab 1941 auf 30 Auslagerungsorte im ganzen deutschen Reich verteilt wurden.]

    Die Konzeption des Wiederaufbaus der deutschen Bibliotheken sah vor, sämtliche Ressourcen zur Literaturbeschaffung einzubeziehen: beschlagnahmte Bücherbestände im Altreich und in den annektierten Gebieten, Dubletten der Reichstauschstelle und der wissenschaftlichen Bibliotheken, Bestände aufgelöster Bibliotheken, Privatbibliotheken sowie Ankäufe verlagsneuer und antiquarischer Literatur im In- und Ausland.

    Mit 5 Millionen Reichsmark für das Wiederaufbauprogramm ausgestattet, erwarb die Reichstauschstelle von 1943 bis 1945 die meisten Bände durch Kauf. Großes Interesse hatte sie an ‚Gelehrtenbibliotheken‘, da diese aufgrund ihrer zu erwartenden Qualität am besten geeignet erschienen, die Verluste der wissenschaftlichen Bibliotheken zu kompensieren. Unter den gekauften Bänden befanden sich nachweislich auch Bücher, die zuvor durch Finanzbehörden von NS-Verfolgten in Deutschland und in den besetzten Gebieten beschlagnahmt oder die von ihren Eigentümern unter Druck verkauft wurden. Die bisherigen Forschungen deuten darauf hin, dass sowohl die Reichstauschstelle als auch die Preußische Staatsbibliothek gute Beziehungen zu den Zentren des nationalsozialistischen Machtapparates pflegten – zum Reichssicherheitshauptamt, zur Gestapo, zum Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg.

  • 2. Nach der Kapitulation Deutschlands und der Übernahme der Administration durch die Alliierten befanden sich mindestens 150.000 Bände in den westlichen Besatzungszonen, kleinere Depots auch in Italien. Der größte Teil der Depots befand sich im Gebiet der sowjetischen Besatzungsmacht sowie auf jenem Gebiet, das bald zu Polen gehören sollte. Die Spuren dieser Bestände zu verfolgen, ist eine wichtige Aufgabe, die jedoch möglicherweise in der verbleibenden Projektlaufzeit nicht mehr abgeschlossen werden kann und Teil eines Folgeprojekts werden müsste. Auch wenn das Schicksal dieser Depotbestände noch unklar ist, so bleibt dennoch festzuhalten: Von dem Abtransport von Büchern durch Besatzungsmächte waren auch Bücher betroffen, die bereits als ‚verfolgungsbedingt entzogen‘ zu gelten haben. Damit überschneiden sich die Probleme des NS-Raubguts und des Nachkriegs-Beuteguts.
  • 3. Das Ende des Krieges markierte nicht zugleich das Ende der Arbeit der Reichstauschstelle. Einschließlich ihrer noch verfügbaren Bestände wurde sie eingegliedert in die Öffentliche Wissenschaftliche Bibliothek (Name der Bibliothek in Berlin-Ost von 1946 bis 1954, heute Staatsbibliothek zu Berlin).

Weiteres Vorgehen

Im Verlauf des Projekts werden weitere Erwerbungsakten sowohl der Preußischen Staatsbibliothek als auch der Reichstauschstelle untersucht. Von besonderem Interesse sind dabei Akten der während des Krieges nach Hirschberg ausgelagerten Erwerbungsabteilung der Preußischen Staatsbibliothek, die sich heute im Archiwum Panstwowe in Jelenia Góra befinden.

Darüber hinaus sind die Personalakten und Nachlässe wichtiger Akteure auszuwerten, darunter Hugo Andres Krüß, Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek von 1925 bis 1945, Hermann Fuchs, Mitarbeiter beim „Bibliotheksschutz im westlichen Operationsgebiet“ in Paris, sowie Gisela von Busse, bis 1945 Stellvertretende Leiterin der Reichstauschstelle, danach deren Leiterin.

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