Wutbürger und Polygamisten – die Reformation radikalisiert sich

Eine faszinierende Bilderhandschrift erzählt in der Ausstellung „Bibel – Thesen – Propaganda“ über die „Kinderkrankheiten“ der Reformation.

Ein Beitrag von Kurt Heydeck.

„Hondert figuuren in teckeningh van dem opkomst begin en handel der voornamste eerste weederdopers tot haar sterven en ondergang“

Die querformatige Papierhandschrift Libr. pict. A 96 zeichnet in 100 Bildern Episoden aus dem Bauernkrieg (Bild 1-14) und vor allem die Ereignisse um die Wiedertäuferherrschft in Münster (Bild 15-100) nach. Beide Bewegungen aus der Anfangszeit der Reformation entzogen sich Luthers Lehre und verweigerten den Gehorsam gegen die weltliche Obrigkeit. An der Spitze standen charismatische Köpfe wie Thomas Müntzer (um 1489-1525) und Jan van Leiden (eigentlich Jan Beuckelszoon; 1509-1536), die diese radikalen Strömungen zumindest zeitweise erfolgreich machten. Zeitgenössische Einblattdrucke haben die hier dargestellten historischen Episoden bereits zuvor auch bildlich festgehalten; eine derart umfangreiche und zusammenhängende Abfolge von kommentierten Bildern, wie sie dieses Album präsentiert, ist jedoch einzigartig.

Bild 100: Initialen J.d.R. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

Zeichner und Quellen der Bilderhandschrift

Unsere Hand-„Schrift“ besteht nur in geringem Maße tatsächlich aus Schrift, vielmehr aus gezeichneten und bräunlich lavierten Bildern, die Ende des ersten Viertels des 18. Jahrhunderts, etwa 1720, in den nördlichen Niederlanden entstanden sind. Ihr Urheber ist mit einiger Wahrscheinlichkeit Jan de Ridder (1665-1735), ein Zeichner und Kupferstecher, der vornehmlich in Amsterdam wirkte und seine Initialen in einer Bildbeschriftung auf dem letzten Blatt der Handschrift hinterließ. Doch es gibt eine direkte schriftliche Quelle, an der sich der Zeichner eng orientierte und aus der die Bildbeischriften meist wortwörtlich entnommen sind: das 1570 erschienene, auf zeitgenössischen Geschichtswerken beruhende Werk „De Wortel, den Oorspronck ende het Fundament der Weder-dooperen oft Herdooperen van onsen tijde“ (1565 bereits auf Französisch publiziert und 100 Jahre später noch ins Englische übersetzt) des niederländischen Reformators Guy de Brès (1522-1567). Über Auftraggeber, Anlass und Zweck für diese Zeichnungen, die ein Thema behandeln, das zum Zeitpunkt ihrer Entstehung immerhin fast 200 Jahre zurücklag, ist in der Forschung viel spekuliert worden, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen. Umstritten ist auch, ob man sich dieses eher skizzenhafte und wenig kunstreich ausgeführte Album als eine Vorstufe für eine intensivere Ausarbeitung vorzustellen hat. Eine eigene Interpretation der Ereignisse aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts entsprach jedenfalls nicht der Intention dieses Bildwerkes.

Das Täuferreich von Münster

Die Täuferbewegung, in deren religiös-ideologischem Zentrum die Ablehnung der Kindertaufe (deshalb auch „Wiedertäufer“) stand, breitete sich seit 1527 von der Schweiz kommend bis in den Norden Deutschlands und in die Niederlande aus. In den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts etablierten sich die Wiedertäufer auf der Flucht vor Verfolgung in Münster. 1534/1535 fand diese Bewegung im gewalttätigen Regime des Täuferreichs von Münster eine besonders brutale Ausformung. Ihr nicht minder blutiges Ende nahm die Täuferherrschaft mit der Erstürmung der Stadt durch Fürstbischof Franz von Waldeck im Juni 1535. Zu diesem Zeitpunkt waren die Täufer für Martin Luther, der sich zuvor mit der täuferischen Theologie intensiv auseinandergesetzt hatte, nur noch Aufrührer und Sektierer, die es mit aller Härte zu bestrafen galt.

Visuelles Storytelling des frühen 18. Jahrhunderts

Bild 2: Thomas Müntzers begeistert als Prediger. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

Bild 14: Thoms Müntzer wird – nach der Niederlage bei Frankenhausen – am 27. Mai 1525 vor den Toren der Stadt Mühlhausen öffentlich hingerichtet. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

Bild 27: Die niederländischen Täufer gewinnen dank wortgewaltiger Unterstützer unter den Einheimischen die Macht in der Stadt Münster, bekehren die einen zum neuen Glauben und treiben die Verweigerer ins Exil. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

Bild 29: Das Täuferreich wird durch den radikalen Umbau der städtischen Strukturen trotz des stärker werdenden äußeren Drucks am Leben erhalten: Hier wird eine an die Jerusalemer Urgemeinde angelehnte Gütergemeinschaft (und damit die Einziehung des Privateigentums) durchgeführt; außerdem schaffte man den alten Rat der Stadt ab und verbrannte das Stadtarchiv. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

Bild 40: Die Täufer können sich der Belagerung durch die Truppen des Münsteraner Bischofs Franz von Waldeck zunächst widersetzen. Durch diese  militärischen Erfolge kann der Gastwirt und Bordellbetreiber Jan van Leiden, der ursprünglich in der zweiten Reihe des Führungspersonals der niederländischen Täufer gestanden hatte,  seinen Führungsanspruch festigen Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

Bild 49: Jan van Leiden lässt sich zum König ausrufen und führt schließlich die mit alttestamentarischen Vorbildern begründete Vielehe ein, bei der er den Männern mehrere Frauen zuweist. In diesem – der lutherischen Aufwertung der Ehe diametral entgegengesetzten – Punkt regt sich auch bei einigen Männern Widerstand, der brutal unterdrückt wird. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

Bild 74: Verfehlungen und Ungehoprsam werden von Jan van Leiden rücksichtslos geahndet; so richtet er hier seine Ehefrau Elise selbst mit dem Schwert hin. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

Bild 80: Der Belagerungsring um die Stadt führt zu einer Hungersnot, die zu Kannibalismus und anderen grotesken Szenen der Nahrungsbeschaffung führt; Vorboten des nahenden Untergangs. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

Bild 92:  Die nach der blutigen Eroberung der Stadt durch Fürstbischof Franz von Waldeck zunächst am Leben gelassenen Anführer der Täufer Jan van Leiden, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling werden zunächst ein halbes Jahr lang herumgezeigt und „befragt“. Im Januar 1536 verurteilt man sie zum Tode und foltert sie zu Füßen der Münsteraner Lambertikirche zu Tode. Hier wird der „König“ Jan van Leiden mit glühenden Zangen traktiert. Die drei Leichen hängt man anschließend zur Abschreickung in eigentlich für den Gefangenentransport verwendeten eisernen Körben am Turm der Lambertikirche auf (unser Beitragsbild), wo die Körbe bis heute zu sehen sind. Handschriftenabteilung. Lizenz: CC-BY-NC-SA

 

In der Ausstellung Bibel – Thesen – Propaganda können Sie noch bis zum 2. April die Bildergeschichte des Täuferreiches sowie weitere spannende Objekte zu den propagandistischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit im Original betrachten!

 

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