Ein Koloss voller Bilder und Geschichten: Die Bible historiale von 1368 – Teil 2
Ein Beitrag von Gabriele Bartz
Der Schreiber Colin Nouvel
Es ist eine echte Mammutaufgabe, etwa 500 Pergamentblätter, also 1.000 Seiten, im Format 45 x 31 cm mit Schrift zu füllen. Über diese Mühen hat schon ein Mönch aus dem 8. Jahrhundert berichtet:
O glücklicher Leser, wasche deine Hände und fasse das Buch so an, drehe die Blätter sanft, halte die Finger weit ab von den Buchstaben. Der, der nicht weiß zu schreiben, glaubt nicht, dass dies eine Arbeit sei. O wie schwer ist das Schreiben: Es trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet.
Kein Wunder also, dass der Schreiber unserer Historienbibel (Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Phill. 1906), Colin Nouvel, gleich mehrfach seinen Namen nennt. Auf Bl. 219, 254v und 505 hat er ihn hinterlassen und damit seine Arbeit deutlich in drei Teile geteilt (Abb. 1-3). Zunächst hat er die Abschrift des Alten Testaments, dann die des Psalters sowie der Prophetenbücher und schließlich das Neue Testament mit dem Datum der Fertigstellung 1368 des gesamten Manuskripts abgeliefert.
Nach modernen Kriterien würde man diese „Unterschriften“ nicht derselben Hand zuordnen; insbesondere die erste mit ihrer ornamentalen Unterstreichung fällt heraus. Sie ähnelt stärker dem, was Sekretäre auf Urkunden hinterlassen (Abb. 4). Vielleicht ist das der Grund, weshalb man Colin als Schreiber von Manuskripten nur in dieser Historienbibel findet: Er war eher in Kanzleien zuhause als im Handschriftengewerbe. Hinzu kommt, dass er anstelle der sonst für solche Manuskripte üblichen anspruchsvollen Buchschrift Textualis eine einfachere Buchkursive verwendete.
Auch Colins zweite Namensnennung (die hier an ein Explicit anschließt) ist ungewöhnlich, weil sie mit einem Feld aus Dornblatt und zwei Zeilenfüllern gerahmt ist. Der Bordürenmaler – der wie in der Handschriftenherstellung üblich erst in einem zweiten Schritt, nach Fertigstellung des Textes, an dem Buch gearbeitet hat – mochte den Schreiber wohl besonders, allerdings nicht so sehr, dass er beispielsweise auf Bl. 308v die kunstvollen Oberlängen nicht übermalt hätte. Auf Bl. 330 freilich legt er seine Bordüre gewissermaßen dahinter.
Colin Nouvel hatte nicht nur die schwarzen Zeichen aufs Pergament zu setzen, er musste auch Platz freilassen: Für die Rubriken (rote Überschriften), die Initialen (Schmuckbuchstaben zu Beginn des Textes) und die Miniaturen (Illustrationen). Er wird über eine Vorlage verfügt haben, sei es als Handschrift, sei es als Liste. Dennoch kann bei solch einer Arbeit einiges schiefgehen. Sind beispielsweise Miniaturen gewünscht, sollte idealerweise erst die Rubrik, dann die Miniatur und danach der Buch-/Kapitelanfang mit der in Gold gemalten Initiale erscheinen. Gleichzeitig aber sollte der Platz auf der Seite möglichst vollständig ausgenutzt werden, gewissermaßenein Blocksatz avant la lettre. Auf Bl. 13 beispielsweise war nur noch Platz für die Rubrik, die Miniatur mit dem Kapitelanfang folgt auf Bl. 13v. Richtig ins Träumen muss Colin beim Schreiben der Jakobsgeschichte gekommen sein, denn hier hat er offenbar zunächst den Platz für das Bild vergessen, den er auf der Folgeseite nachholt. Wie gut der Text geschrieben ist, mag ich nicht beurteilen, doch auf Bl. 382 ist Colin Nouvel aufgefallen, dass er was vergessen hat; er musste das bereits Geschriebene rasieren und Ergänzungen an den Rand schreiben.
Was indes beim zweiten Johannesbrief passiert ist, bleibt unklar: Die Miniatur erscheint oben in der zweiten Spalte mit der großen Dornblatt-Initiale darunter. Warum aber unten aus der ersten Spalte ein Rahmen für eine Miniatur vorgezeichnet wurde, in dem sich nun die Rubrik befindet, ist ein Rätsel.
Die Handschrift ist von September bis Dezember 2024 im Stabi Kulturwerk zu sehen oder auch online in unseren Digitalisierten Sammlungen zu blättern.
Literatur:
Eléonore Fournié, « Les manuscrits de la Bible historiale. Présentation et catalogue raisonné d’une œuvre médiévale », L’Atelier du Centre de recherches historiques 03.2 | 2009, mis en ligne le 01 janvier 2010. URL : http://journals.openedition.org/acrh/1408
Dominique Stutzmann und Piotr Tylus, Les manuscrits medievaux francais et occitans de la Preussische Staatsbibliothek et de la Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz. – Wiesbaden: Harrassowitz, 2007 (Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz. Kataloge der Handschriftenabteilung: Reihe 1. Handschriften; Bd. 5), S. 244-248.
Weitere Beiträge zur Handschrift finden Sie hier bzw. demnächst in unserem Blog.
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