Das besondere Objekt: Johanna Boys Studenten-Kochbuch (1875)
Diese Blog-Reihe „Das Besondere Objekt“ möchte Ihnen in lockerer Folge besondere Titel aus den Beständen der Staatsbibliothek vorstellen. Unterschiedlichste Themen sollen zur Sprache kommen und werden Sie vielleicht in unsere Lesesäle locken.
Johanna Boys Studenten-Kochbuch von 1875
„Iss, was gar ist,
Trink‘, was klar ist,
Red‘, was wahr ist,
Lern‘ auch nicht Philosophie
Aus ‚nem Glas Crambambuli.“ (S. 4)
Studieren im 19. Jahrhundert
Im zarten Alter von 24 Jahren verfasst Johanna Boy, eine spätere Diakonisse und Verfasserin christlicher Schriften (1), ein Kochbuch für Studenten – dem munteren Tonfall nach für einen Bruder oder Freund. Warum?
Die Welt von 1875 erlaubte offiziell nur Männern eine akademische Ausbildung (2), und es ist anzunehmen, dass diese ohne nennenswerte häusliche Erfahrung in ihr Studentenleben entlassen wurden. Das Titelbild des kleinen Bändchens zeigt einen jungen Mann in der Tracht eines Burschenschafters, eine lange Pfeife rauchend, lässig gegen einen Tisch gelehnt. Hinter ihm an der Wand die Insignien einer schlagenden Verbindung: Degen und Säbel, darüber ein dickes Wams; rechts von ihm Kochutensilien. Aber nur wenige Bücher stehen in seinem Regal…
Wenn sie nicht zuhause wohnten, lebten Studenten zur Untermiete bei einer Zimmerwirtin, die vielleicht für das Frühstück sorgte und das Putzen übernahm. Ansonsten aßen die Studenten im Gasthaus, wo Mittagstisch und kleinere Speisen angeboten wurden. Und so wendet sich das vorliegende Kochbuch an Studenten – „besonders in den Zeiten, wo arge Ebbe im Geldbeutel eingetreten ist“.
Und dann geht es auch schon los. Die Verfasserin hält sich nicht lange mit umständlichen Erklärungen auf. Sie fasst sich kurz und streut Maßeinheiten aus dem studentischen Alltag ein, wie etwa bei der Zitronenschale, „halb so lang wie ein Collegienheft und von der Breite eines Chemisettbandes“ (S.13) (3). Was sollte man besitzen, um überhaupt kochen zu können? Sehr wenig – man könnte neidisch werden, wie schlicht es zuging damals. Ein Topf, ein Krug, ein Löffel, ein Quirl, kaum mehr.
Die Kochstelle? Im Winter der Ofen, der sommers von einfallsreichen Mietern als Vorratsschrank benutzt wurde, im Sommer „eine Spiritusmaschine“ (S. 5). Von elektrischen Kochplatten war man 1875 noch weit entfernt! Von Brandschutzbestimmungen allerdings auch. So schreibt die Verfasserin fröhlich, man könne morgens um 9 seine Fleischsuppe aufsetzen, und wenn man um 1 aus der Uni wiederkomme, sei das Fleisch gar… Heute nennt man das wohl Niedrigtemperaturgaren.
Das erste Rezept bringt ein Zwei-Gänge-Menü. Mit nur drei Zutaten: Ein Pfund Suppenfleisch, eine Zwiebel, ein wenig Salz. Fertig! Die Brühe wird vorab gelöffelt, das sorgt für gesunde Flüssigkeit und das Gefühl, schon etwas im Magen zu haben. Dazu das Fleisch, als Beilagen Senf und Brot, eventuell „cucumis“, also: Essiggurken. Das benutzte Geschirr, so können wir annehmen, wurde einfach an die Zimmerwirtin weitergereicht, und es konnte weitergehen mit dem Studieren. Was bedeutet Student nochmal? Der Eifrige, Strebende!
Damals stand Fleisch vermutlich selten auf der Speisekarte. Ein Pfund Fleisch kostete 6 bis 7 Silbergroschen (4), das sind nach heutiger Währung um die 5 €. Teuer angesichts eines Durchschnittseinkommens von umgerechnet 513,50 € (5). Stattdessen nimmt die Verfasserin viele Eier- und Kartoffelspeisen, Suppen, Salate und Süßspeisen in die Rezeptsammlung auf. Kennen Sie schon Hagebuttensuppe?
Gespart wird besonders an guter Butter. Die Menge „eine Schrotkugel“ entspricht mit einem Durchmesser von 4 mm etwa einem halben Dessertlöffel… Für gelegentlichen Luxus sorgt „Chokolade, für die man, in einer Conditorei genossen, für eine einzige Tasse 3 Sgr. blechen muss.“ (S. 22). Die nötige Milch wird aus „condensirter Milch“ hergestellt. Milchextrakt dieser Art gibt es schon etwas länger als Fleischextrakt, den die Autorin verwendet, um Vorratshaltung zu ermöglichen. Der fehlende Kühlschrank führt zu so wunderbaren Sätzen wie diesem: „Im Sommer ist der Ofen der Getreue, der Ihnen Alles aufs Beste conservieren wird.“ (S. 7)
Besser zuhause bleiben und brav studieren! Ein Gasthausbesuch geht ja nicht nur wegen des Essens ins Geld – da sind noch die Verlockungen von Bier, Wein oder dem eingangs erwähnten „Crambambuli“, eine bei Studenten einst sehr beliebte und vielbesungene Spirituose (6). Deshalb denkt die Autorin auch an die Folgen eines solchen Ausflugs und liefert als letztes ein Hausrezept gegen Unpässlichkeiten aller Art…
Neugierig?
Sie finden dieses wunderbare Büchlein hier – auch als Download -, und schon können Sie loskochen.
Guten Appetit!
Boy, Johanna, und Carl Friedrich Thienemann. Studenten-Kochbuch. Oschersleben: Köppel, 1875. Signatur: 50 MA 30843
Alle Zitate stammen aus dem Kochbuch von Johanna Boy.
Literaturhinweise
Wer richtig kochen lernen will, klickt hier: Digitalisierte Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin Werkansicht: Puppen- und Kinder-Kochbuch
Oder ganz klassisch und auch für festliche Essen geeignet: Kochbücher von Henriette Davidis!
Und wer mehr über studentisches Leben von einst wissen möchte, könnte den Roman Dunkelrot-weiss-rosenrot von Hans Parlow aus dem Jahr 1907 lesen.
Stöbern Sie doch auch in unserer historischen Systematik nach weiteren Spezialkochbüchern: ARK Sachkatalog der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Fußnoten
(1) Johanna Boy Biografie: World Biographical Information System online (SBB-Zugang)
(2) Studenten-Kochbuch, S. 5; Manzin, Patrizia: Das akademische Bürgerrecht und die Zulassung von Frauen zu den deutschen Universitäten 1865-1914). Humboldt-Universität zu Berlin, Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, Publikationen/ Gender Bulletin und Broschüren, Bulletin Texte, Texte 23
(3) Chemisette: laut Brockhaus‘ Conversations-Lexikon von 1879 „Vorhemd, Kragen“, durch ein Chemisetteband an Ort und Stelle gehalten.
(4) Johanna Boy rechnet noch mit Silbergroschen (Sgr.), obwohl die preußische Währungsreform nach der Reichsgründung von 1875 die Mark und den Pfennig eingeführt und den Groschen abgeschafft hatte.
Kaufkraftäquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen | Deutsche Bundesbank
(5) Entwicklung des Realeinkommens in Deutschland in den Jahren 1810 bis 1913:
Historisches Realeinkommen in Deutschland 1810-1913 | Statista
(6) Meyers Lexikon von 1927 erklärt Krambambuli (Crambambuli) so: „Ursprünglich Danziger Kirschbranntwein; burschikos: geistiges Getränk überhaupt.“ Dagegen erklärt Joachim Bahlcke 1998 in seinem Artikel „Die Danziger Liqueur-Fabrik Der Lachs“, es handle sich um Wacholderbrannwein. Die Rezeptur mag sich im Laufe der Zeit geändert haben.
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