Zur Zensur in Russland
von Asya Sarayeva, Referentin der Osteuropa-Abteilung
Was haben ein Saarbrückener Estrichleger, der betrunken mit bloßen Händen seinen Vermieter erschlagen hat, und der russische Bestsellerautor Dmitrij Gluchovskij (Dmitri Gluchowski/Dmitry Glukhovsky) gemeinsam? Beide wurden von den in ihren Ländern zuständigen Gerichten zu acht Jahren Haft verurteilt (Herr Gluchovskij in Abwesenheit, wohlgemerkt). War das Verbrechen des Herrn Gluchovskij ebenfalls Totschlag? Nein, das Verbrechen des Schriftstellers bestand darin, dass er auf seinem Instagram-Account im Jahr 2022 einen Kommentar gepostet hatte, der sich auf Russisch exakt auf vierzehn Wörter beläuft. Auf Deutsch lautet er: „Stoppen Sie den Krieg! Gestehen Sie, dass das ein echter Krieg gegen ein ganzes Volk ist und stoppen sie ihn! Mariupol.“ Damit kommentierte Gluchovskij ein Video, in dem ein russischer Panzer zu sehen ist, der auf ein Wohnhaus in der Stadt Mariupol schießt.
Kommentare solcher Art werden in Russland mit Freiheitsstrafen von bis zu 15 Jahren belegt, wie es im Föderalen Gesetz Nr. 32 vom 4. März 2022 (in den Medien bekannt als „Gesetz über Fake News“ oder „Gesetz über militärische Zensur“) festgelegt ist. Das Gesetz ist eines von mindestens vier Gesetzen, die die Meinungsfreiheit im heutigen Russland drastisch einschränken und als Grundlage dienen, um nicht nur einfache Bürger, sondern vor allem auch Kulturschaffende zu Feinden des Staates und Verrätern zu erklären und ihre Werke zu zensieren und zu verbieten. In Ergänzung dazu empfehlen wir Ihnen den Beitrag Zensur in Russland und Belarus – Neue und ältere Erwerbungen der Osteuropa-Abteilung.
Aktuell (Stand: April 2025) gelten 48 bekannte russische Schriftsteller und Publizisten als „ausländische Agenten“ (https://godliteratury.ru/articles/2023/02/20/spisok-pisatelej-inoagentov). Der Verkauf der Bücher dieser ausländischen Agenten ist in Russland per Gesetz nicht verboten, solange die Angaben zum Status des Autors sowie die 18+ Markierung auf dem Umschlag des Buches erscheinen. Der Status kann sich jedoch schnell ändern – über Nacht können die heutigen Agenten in den Augen der Behörden zu Terroristen oder Extremisten werden (z.B. durch einen Repost oder ein Interview), was strafrechtliche Verfolgung nach sich zieht und ein Verbot ihrer Werke zur Folge hat (Föderales Gesetz Nr. 114 vom 25. Juli 2002 über die Bekämpfung extremistischer Aktivitäten). Daher rührt die Angst der russischen Verlage, mit den Autoren, die bereits als Agenten gelten, zu arbeiten.
Neben dem Buchhandel sind auch Bibliotheken von der Zensur betroffen. Seit 2024 werden Änderungen im Bibliotheksgesetz erarbeitet, die Bibliotheken verpflichten, künftig nach Anweisungen des Kulturministeriums den Zugang zu den Büchern der ausländischen Agenten sowie zu sogenannter extremistischer Literatur einzuschränken oder diese ganz aus den Beständen zu entfernen. Obwohl das Gesetz noch nicht verabschiedet wurde, überprüfen Bibliotheken ihre Bestände bereits nach diesen Kriterien und entfernen „gefährliche“ Bücher schon jetzt aus dem Freihandbereich oder makulieren sie.
Unabhängig von der Autorschaft werden in Russland alle Bücher zensiert und verboten, die sich mit Homosexualität befassen. Das entsprechende Gesetz aus dem Jahre 2022 verbietet jegliche Art von Information zu diesem Thema (https://www.dekoder.org/de/article/interview-edelschtein-lgbtq-zensur-russland). In Russland wird von Behörden behauptet, dass es eine international agierende extremistische LGBT-Organisation gibt. Neulich wurden Mitarbeiter eines der größten russischen Verlage verhaftet. Ihnen wird vorgeworfen, trotz des Verbots, knapp tausend Exemplare von zehn Titeln aus der Produktion des Verlags mit homosexueller Thematik verkauft zu haben. Ihnen drohen bis zu 12 Jahre Haft. (https://meduza.io/en/feature/2025/05/15/russian-authorities-arrest-employees-of-largest-publishing-house-over-alleged-lgbt-propaganda-in-books ).
Die Liste aller unerwünschten oder verbotenen Bücher wächst konstant. Die sogenannte Fahrenheit-Liste wird von der Novaja Gazeta regelmäßig aktualisiert (https://novayagazeta.ru/articles/2025/01/08/farengeit-list-obnovlennaia-versiia).
Die Autoren, die immer noch frei denken und in Russland geblieben sind, müssen sich selbst zensieren oder sich durch Verlage zensieren lassen (https://meduza.io/en/feature/2025/01/09/the-number-of-words-you-can-say-keeps-shrinking), um weiter publizieren zu dürfen – die äsopische Sprache der Literatur hat wieder Konjunktur. Oder sie verlassen das Land und publizieren im sogenannten „Tamizdat“ – in Exilverlagen. Die „Schmuggelei“ dieser Literatur durch Privatpersonen nach Russland, um den durch den eigenen Staat als Geisel genommenen Landsleuten das Lesen zu ermöglichen, wird immer öfter durch Grenzkontrollen unterbunden. Der noch freie Postweg und digitale Formate (über spezielle Telegram-Bots) sind die einzigen Möglichkeiten, die in Russland unerwünschten und verbotenen Bücher im Ausland zu kaufen.
Die neue legislative „Kreation“ der Staatsduma aus dem Jahr 2024 – das Gesetz gegen die „childfree-Propaganda“ (d.h. Verbot jeglicher Informationen über den freiwilligen Verzicht auf das Kinderkriegen, mehr dazu https://www.dekoder.org/de/article/gesetz-childfree-bewegung-biopolitik ) – stellt sowohl die Behörden als auch die Ausführenden vor eine neue Herausforderung, wie das neue Verbot im Internet, in Massenmedien, im Film, in der Werbung, in Büchern umgesetzt werden kann. Quo vadis, Russland?
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