Digitale Lektüretipps 23: Forschen in der Märchenwelt – Enzyklopädie des Märchens Online
Ein Beitrag aus unserer Reihe Sie fehlen uns – wir emp-fehlen Ihnen: Digitale Lektüretipps aus den Fachreferaten der SBB
Würden Sie sich auch zur Zeit am liebsten in die Welt der Märchen flüchten? In der irrigen Annahme, für die Märchenhelden sei alles leicht zu ertragen, da ja ein guter Ausgang gewiss ist? Außer natürlich für die Unholde und Hexen, bösen Stiefmütter, zänkischen Zwerge …
Auch Krankheiten kommen in Märchen durchaus vor, werden aber oft nicht direkt benannt, sondern mit euphemistischen Beschreibungen angedeutet: Vorsicht gebietet da der Glaube, man könne sich Krankheiten schon durch bloßes Benennen zuziehen. So verrät im Eintrag „Krankheit“ die Enzyklopädie des Märchens Online (EMO) – über das Internet zugänglich für alle, die einen Bibliotheksausweis von uns haben.
Nach Einträgen wie „Pest“ sucht man darin dennoch nicht vergebens: Neben (kultur)historischen Ausführungen werden beispielhaft Sagen, Lieder, Anrufungen von Schutzheiligen, Pesttraktate und -gebete angeführt. Anders als der Name suggeriert, befasst sich die Enzyklopädie des Märchens Online nämlich nicht nur mit Märchen im engeren Sinne, sondern mit allen Gattungen und Medien mündlich und schriftlich überlieferten Erzählguts, als da wären Märchen, Legenden, Sagen, Fabeln, Tiergeschichten, Ätiologien, Schwänke, Witze und dergleichen mehr.
EMO ist die elektronische Version des über den langen Zeitraum von 1975 bis 2015 gedruckt erschienenen Nachschlagewerks Enzyklopädie des Märchens: Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, dessen 15 Bände in unseren Lesesälen stehen. Auf insgesamt 10.800 Seiten sind knapp 4.000 Artikel aus fast 200 Jahren internationaler Forschung in volkstümlicher Erzähltradition enthalten, von einem international zusammengesetzten Kreis von 1.050 Mitwirkenden in Kooperation mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen zusammengetragen. EMO bietet über die Vorteile komplexerer Suchmöglichkeiten und einer dynamischeren Anzeige bei beliebig vielen gleichzeitigen Zugriffen hinaus die hochwillkommene Möglichkeit, dieser Tage überhaupt benutzt werden zu können.
Die einzelnen Einträge lassen sich auf verschiedene Weise ansteuern: direkt über eine Lemma-Suche, über eine Suche mit jeweils zugeordneten Schlagwörtern, mit englischsprachigen Lemma-Äquivalenten, über eine Volltextsuche in den Handbuchbeiträgen, nach Erzähltypen, Bibelstellen – alle wahlweise auf eine von 15 Sachgruppen zu beschränken und natürlich beliebig kombinierbar. Die angebotene Browsing-Funktion bezieht sich ebenfalls ausschließlich auf die Einträge.
Kehren wir noch einmal zurück zu „Krankheit“. Nach einer Begriffsbestimmung werden Krankheitsbilder und -ursachen, Umgang mit und Bewertung von Krankheiten sowie weitere eher weniger erfreuliche Aspekte thematisiert. Anschließend sind ungefähr 50 Schlagwörter aufgelistet, die mit „Abwehrzauber“, „Amulett“, „Heilmittel“ zum Glück auch den Weg zu wirksamen Gegenmaßnahmen weisen. Und direkt mittels der Schlagwortsuche finden wir in weiteren Einträgen noch so manches Kraut, das gegen das ein oder andere Übel gewachsen ist.
Oder nehmen Sie sich in der Lemma-Suche die Region vor, in der Sie eigentlich Ihren Osterurlaub verbringen wollten, um wenigstens der fremden Erzähl-Kultur nachzuspüren. Hier geht es (alphabetisch) von den Abchasen am Schwarzen Meer bis nach Zypern, vom heimischen Deutschland über ganz Europa bis in das ferne Amerika und das noch fernere Ozeanien. Den Schwerpunkt bilden dabei Europa und die europäisch beeinflussten Kulturen, die Kulturen des mediterranen und asiatischen Raumes. Durch die explizite Berücksichtigung „der bis vor kurzem schriftlosen Völker“, wie es in der Übersicht heißt, hat auch eine Reihe heute postsowjetischer Völker Aufnahme gefunden.
Und die Brüder Grimm? Steht zu denen auch was drin? – Aber gewiss doch! Und nicht nur Jacob und Wilhelm, sondern auch zwei ihrer Brüder haben einen selbständigen Eintrag, wobei mit Ludwig Emil ausnahmsweise sogar einem Illustrator diese Ehre zuteil wird. Ansonsten wurden derart in der Regel Erzähler, Sammler, Schriftsteller, Erzählforscher bedacht. Illustratoren werden in dem umfangreichen Eintrag „Illustration“ behandelt, spielen aber häufig auch in anderen Kontexten eine Rolle, genauso wie natürlich die Erzähler, Sammler, Forscher. Zu finden sind sowohl die eigenen Einträge als auch diejenigen, bei denen die Namen als Personen-Schlagwort angegeben sind, über eine spezielle Personen-Suche – sofern es um reale Personen geht, nicht etwa um Märchenfiguren …
Was man in EMO nicht findet: die Märchentexte und -illustrationen selbst. Zum Versinken in die Märchenwelt wird man in diversen literarischen Volltextdatenbanken etwas Geeignetes finden. Oder – ganz bestimmt gemütlicher – Sie schmökern in den guten alten gedruckten Büchern, die Sie sicher noch zu Hause haben.
Der Ausklang soll aber doch wieder digital und wissenschaftlich sein:
Für neueste Beiträge zum Fachgebiet empfiehlt sich zum Beispiel ein Blick in die „Zeitschrift für Erzählforschung“ Fabula.
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