Walter Boehlichs „sammlung insel“ der 60er Jahre
… Wiederaufnahme eines Walter Benjamin’schen Projekts der 30er Jahre
Prof. Dr. Richard Faber
Als beste Art, die Gedankenwelt eines Menschen nachzuschaffen, etwa die ihres Kaisers Hadrian, empfahl Marguerite Yourcenar, seine Bibliothek zu rekonstruieren. Im Falle Walter Boehlichs besitzen wir dessen Bibliothek und können deshalb seine Gedankenwelt viel authentischer als Yourcenar die Hadrians nachschaffen. Im Werkstattgespräch geht es jedoch nicht darum, Boehlichs Bibliothek zu beschreiben, zu analysieren und zu strukturieren, sondern die entscheidende von ihm edierte Buchreihe zu rekonstruieren, die man freilich – in Analogie zur von ihm mitbetreuten Bibliothek Suhrkamp – auch „Bibliothek“ nennen könnte: die in nur vier Jahren zustandegekommene, fünfzigbändige sammlung insel.
Sie ist ein umso lohnenderer Gegenstand, als sie sich den laut Walter Benjamin vornehmsten Titel einer Sammlung, die „Vererbbarkeit“, emphatisch zurechnen kann: Boehlichs sammlung insel besitzt bis heute etwas Kanonisches, wenn auch mehr denn je wieder etwas Gegen- bzw. Alternativ-Kanonisches, so wie es schon die „Nicht-Anthologien“ des späten Benjamin besaßen, die noch oder wieder für die sammlung insel maßgebend waren. Besonders ist hier an Benjamins Brieffolge Deutsche Menschen von 1936 zu denken, die alles andere als zufällig in der sammlung insel, von Adorno herausgegeben, zum ersten Mal nach dem Krieg wieder vollständig erschienen ist.
Zum Referenten: Prof. Dr. Richard Faber studierte Germanistik, Geschichte, Politologie, Philosophie, Religionswissenschaft und Soziologie, wurde in Philosophie promoviert und habilitierte sich mit einer Arbeit zur Kritik der Konservativen Revolution. Seit 2006 ist er Honorarprofessor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Literatursoziologie an der Freien Universität Berlin. Sein umfangreiches und vielgestaltiges OEuvre umfasst Monographien sowie zahlreiche Herausgeberschaften zur deutschen und europäischen Kultur- und Religionssoziologie, zur modernen Antikenrezeption sowie zur Intellektuellen- und Ideologiegeschichte.
Der Literaturkritiker Walter Boehlich (1921-2006), Schüler des Romanisten Ernst Robert Curtius, war eine der einflussreichen Gestalten der bundesdeutschen Intellektuellengeschichte. Zwischen 1957 und 1968 Cheflektor des Suhrkamp Verlags in Frankfurt am Main, prägte er das Verlagsprogramm mit seinem sozialkritischen Engagement und Interesse an der „vergessenen Aufklärung“ des 18. und 19. Jh. Nach seiner Trennung vom Suhrkamp Verlag im sog. „Lektorenaufstand“ von 1968 gründete er den „Verlag der Autoren“ mit und trat mit zeitkritischen Beiträgen publizistisch in Erscheinung. Boehlich war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seine Bibliothek wurde nach seinem Tod vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam übernommen und wird in der Stadt- und Landesbibliothek Potsdam aufbewahrt.
Ihr Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!