Die Zielgruppen des Handschriftenportals.
Teil 1: Wissenschaftler:innen unterschiedlichster Fachdisziplinen

Ein Interview zwischen Dr. Christoph Mackert (UBL) und Carolin Hahn (SBB).

Das Handschriftenportal (HSP) wird mit seinem Launch im Jahr 2021 den bisherigen zentralen Handschriften-Onlinekatalog Manuscripta Mediaevalia ablösen. Manuscripta Mediaevalia offeriert das bis dato umfangreichste Informationsangebot für die handschriftenbezogene Forschung weltweit, wurde jedoch trotz dieser Vorreiterrolle von den wissenschaftlichen Zielgruppen zu wenig angenommen. Grund dafür war insbesondere die schwache Usability, resultierend aus der frühen Implementierung des Angebots Ende der 1990er Jahre. Dies soll sich mit der Entwicklung des Handschriftenportals grundlegend ändern: Einer der wesentlichen Ansprüche ist eine hohe Nutzungsfreundlichkeit und damit ein passgenaues Angebot für die Arbeit einer breit gefächerten Community.

Für wen wird das Handschriftenportal entwickelt?

Grundsätzlich wird das Informationsangebot des HSP für alle offenstehen – für kulturell Interessierte ebenso wie für hochspezialisierte Fachwissenschaftler:innen. Im Fokus stehen aber insbesondere zwei Nutzungsgruppen:

  1. historisch arbeitende Wissenschaftler:innen unterschiedlichster Disziplinen, die sich bei ihren Forschungen (auch) auf die handschriftliche Buchüberlieferung stützen, die diese Handschriften aufarbeiten und handschriftenorientierte Herangehensweisen vermitteln,
  2. Institutionen, die Buchhandschriften vorhalten, verwalten und Informationen zu ihnen bereitstellen – von Bibliotheken über Archive und Museen bis hin zu anderen fachspezifischen Datenangeboten, Nachweissystemen und Portalen.

Auf welche Funktionen und Services dürfen sich diese Hauptnutzungsgruppen freuen und wie werden sie in Entscheidungsprozesse bei der Entwicklung des Handschriftenportals eingebunden? Hierzu wird zunächst Dr. Christoph Mackert (UB Leipzig) befragt.

Welche Services das Handschriftenportal für bestandshaltende Einrichtungen bieten wird, erläutert Dr. Carolin Schreiber (BSB München) in einem zweiten Interview.

Steckbrief

Name:
Dr. Christoph Mackert (UBL)
Rolle im Projekt:
Stellvertretender Projektleiter
Institutionelle Anbindung:
Leiter des Handschriftenzentrums der UBL

1. Welche Rolle nehmen Sie im Projektzusammenhang ein? Wofür sind Sie verantwortlich?

Als stellvertretender Projektleiter habe ich zusammen mit dem Gesamtleiter Robert Giel die Verantwortung, all die verschiedenen Bestandteile des HSP-Projekts – Aufgaben, Teams, Nutzer:innen etc. – im Blick zu behalten und den planmäßigen Fortschritt zu gewährleisten. Da ich an der UB Leipzig arbeite, wo das Frontend entwickelt wird und damit genau das, was die Nutzer:innen von außen später vor sich sehen werden, ist einer meiner Schwerpunkte sicherlich die ständige Prüfung, ob das Portal seine zentrale Funktion als gut handhabbares und cooles Instrument für die Forschung erfüllt.

2. Das Handschriftenportal-Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, um eine wissenschaftliche Infrastruktur für die Forschung bereitzustellen. An welche Wissenschaftler:innen genau richtet sich das Angebot des HSP?

‚Die Forschung‘ ist natürlich keine homogene Gruppe, das HSP wird vielmehr eine große Spannbreite von Fragestellungen und Ansätzen flexibel bedienen und so verschiedenste Forschungsbedarfe unterstützen. Für eine philologische Textedition ist es z. B. wichtig, welche handschriftlichen Zeugnisse des fraglichen Werks im HSP dokumentiert sind, ob sich darunter eventuell sogar bislang unbekannte Textzeugen finden und welche Handschriften bereits digital einsehbar sind. Für die interpretierende Einordnung eines Textes wiederum kann es von Bedeutung sein, welche anderen Texte in den Codices mit enthalten sind. Eine kunstgeschichtliche Arbeit mag sich nur für einzelne Initialen in mehreren Handschriften interessieren, die alle aus einer gemeinsamen Buchmalerwerkstatt stammen und die am besten vergleichend nebeneinandergestellt werden sollten. Kultur- und geistesgeschichtliche Arbeiten können fragen, wann in welchen Kreisen bestimmte Texte oder Textgattungen ihre intensivste Rezeption erlebt haben und ob es dafür bevorzugte Handschriftenformate gab.

Selbstverständlich gibt es auch viele materialkundliche Forschungsansätze, für die die Textinhalte der Codices keine oder nur eine nachrangige Rolle spielen, wie z. B. bei der Erforschung von Einbandwerkstätten oder für die Paläographie und die Papier- und Wasserzeichenkunde. Nicht vergessen darf man auch den wissenschaftlichen Nachwuchs, der noch keine langjährigen Spezialkenntnisse hat und dennoch mit dem Angebot arbeiten können muss. Gerade auch für dessen Ausbildung ist eine leicht zugängliche Aufbereitung der komplexen Informationen von großer Bedeutung.


Exkursion des Leipziger Handschriften-Sommerkurses in die Domstiftsbibliothek Merseburg

3. Welche Informationen wird das HSP denn der Forschung anbieten können?

Zunächst muss man sich bewusst halten, dass die Voraussetzungen für wissenschaftliche Arbeiten, die sich auf das Quellenmaterial der Buchhandschriften aus Mittelalter und Neuzeit stützen, in Deutschland so günstig sind wie kaum anderswo. Dank jahrzehntelanger gezielter DFG-Förderung sind die deutschen Handschriftensammlungen besonders gut wissenschaftlich erschlossen, und für die noch nicht ausreichend aufgearbeiteten Bestände wird die Erschließung konsequent weitergeführt. All diese Informationen werden gebündelt im Handschriftenportal zusammengeführt und dort für die unterschiedlichen Nutzungsszenarien aufbereitet. Das heißt, dass man dort eine Fülle von Angaben zum materialhaften ‚Äußeren‘ der einzelnen Handschriften, zu ihrer Ausgestaltung in Schrift, Layout und Buchschmuck, zur Entstehungs- und Besitzgeschichte und natürlich zu ihrem Inhalt finden wird.

Die Transkription der in den Codices enthaltenen Texte gehört allerdings nicht zu den Aufgaben einer wissenschaftlichen Erschließung, Volltexte einzelner Werke werden daher im HSP zunächst nicht zu finden sein, doch wird perspektivisch die Möglichkeit bestehen, dass Wissenschaftler:innen Transkriptionen in der Datenumgebung des HSP erstellen und öffentlich verfügbar machen. Von Anfang an aber wird die Einbindung von Digitalisaten den Zugang zu den überlieferten Texten (ebenso wie zum Bildschmuck und dem Objektcharakter der Handschriften) entscheidend verbessern, zumal viele Schriftwerke bisher nicht ediert sind.

Der Großteil der angebotenen Erschließungsdaten wird zunächst aus der Vorgänger-Datenbank Manuscripta Mediaevalia stammen, laufend ergänzt durch die Direkteinspeisung neuer Katalogisate aus laufenden Projekten, wie sie zumeist an den Handschriftenzentren angesiedelt sind. Perspektivisch werden via Datenaustausch und Linked-Open-Data-Technologie auch Informationen aus anderen Onlineangeboten zur Handschriftenüberlieferung des deutschsprachigen Raums eingebunden sein.

4. Stichwort ‚Manuscripta Mediaevalia‘: Was werden wichtige Verbesserungen im HSP sein, damit die gute Datenlage auch endlich angemessen von der Wissenschaft genutzt werden kann?

Manuscripta Mediaevalia, in den späten 1990er Jahren noch von der gedruckten wissenschaftlichen Publikation her gedacht, war als Präsentation einzelner Handschriftenbeschreibungen aus Handschriftenkatalogen konzipiert. Wir denken nun das ganze Datenangebot von der einzelnen Handschrift her. Das heißt, dass Sie alle Informationen, die zu einer Handschrift vorliegen, an einer Stelle gebündelt finden werden: z. B. wenn mehrere Beschreibungen zu dieser Handschrift aus unterschiedlichen Zeiten existieren und vielleicht auch ein Farbdigitalisat und außerdem noch ein digitalisierter Mikrofilm, der einen älteren Zustand zeigt. Sie können in einer einheitlichen Präsentationsumgebung diese verschiedenen Beschreibungen und die Digitalisate nebeneinander öffnen und vergleichen.

Oberstes Ziel ist es, Recherchen und den Weg zum Gesuchten so intuitiv und selbsterklärend wie möglich zu machen, quasi eine digitale ‚Wohlfühlumgebung‘ zu schaffen, in der man gern und mit guten und schnellen Ergebnissen unterwegs ist und weiß, was man warum angezeigt bekommt. Wir wollen dem durch Google und die großen Medienportale sozialisierten Nutzungsverhalten weitestgehend entgegenkommen. Ein zentraler Sucheinstieg wird einen ersten Zugang für die verschiedenen Fragestellungen bieten, die Suchergebnisse sind dann über Facettierung (also Ein- und Ausschalten bestimmter Filter) weiter eingrenzbar. Die Anzeige von Recherchetreffern muss so gestaltet sein, dass ich schon in der Übersicht sehe, ob ein Ergebnis für mich besonders relevant sein kann, bevor ich es mir genauer anzeigen lasse. Kurz: alle relevanten Informationen an einer Stelle, Bild- und Textinformationen in einer gemeinsamen Präsentation und natürlich ein intuitives Suchen und Stöbern, das allen Anforderungen von Usability entspricht.

Doch auch das Datenangebot selbst wird gegenüber Manuscripta Mediaevalia entscheidend verbessert sein, wenn das HSP erstmals online geht: Bislang waren zu über 230 Handschriftenkatalogen, die mit DFG-Förderung in den letzten Jahrzehnten erarbeitet worden sind, nur die gedruckten Register im Datenbestand. Nun werden die dazugehörigen Beschreibungsvolltexte integriert und so nicht nur die Datenbasis bedeutend vergrößert, sondern auch das Benutzungserlebnis auf völlig neue Grundlagen gestellt.

5. Wie geht das Portal damit um, dass die Digitalisate von Handschriften üblicherweise lokal von den einzelnen Bibliotheken in ihren eigenen Systemen angeboten werden?

Dass die digitalisierten Handschriften in der Regel dezentral von den jeweiligen Besitzinstitutionen präsentiert werden, ist tatsächlich kennzeichnend für die aktuelle Situation. Forscher:innen müssen sich bei der Suche nach ‚ihrer‘ Handschrift jeweils mühsam in die einzelnen Bibliothekssysteme einarbeiten und die Digitalisate auf den lokalen Websites finden. Mit dem HSP wird sich die Lage grundlegend ändern, da eine der Hauptaufgaben – auch aus Sicht der DFG – der zentrale Nachweis der digitalisierten Handschriften in deutschen Sammlungen ist. Künftig werde ich also bei einer Suchanfrage sehen, ob und wo es ein Digitalisat ‚meiner‘ Handschrift gibt. Wenn diese Digitalisate dann auch noch dem internationalen IIIF-Standard entsprechen – was heutzutage bei immer mehr Bibliotheken der Fall ist – werden Sie nicht einmal mehr über einen Link in die lokale Präsentationsoberfläche der einzelnen Besitzinstitution geführt, sondern können sich die Images innerhalb des HSP-Portals und somit in einer einheitlichen Umgebung anzeigen lassen – zusammen mit anderen IIIF-fähigen Digitalisaten weiterer Institutionen. Ideal zum vergleichenden Arbeiten.

6. Wie stellen Sie sicher, dass das HSP am Ende auch wirklich den Bedürfnissen der wissenschaftlichen Community gerecht wird?

Zum Kernkonzept des gesamten Projekts gehört, dass diejenigen, die mit dem Portal arbeiten sollen, von Anfang an in die Entwicklung einbezogen werden. Bereits vor dem offiziellen Projektstart am 1. Oktober 2018 hat im April 2018 an der UB Leipzig ein erster für alle Interessierten offener Anforderungsworkshop für den Mirador-Viewer stattgefunden. Weitere Workshops mit Vertreter:innen der Forschung fanden im Oktober 2018 und dann vor allem im März 2019 statt [nähere Informationen zu den Veranstaltungen s. News]. Und auch für die kommenden Entwicklungsschritte sind weitere Workshops geplant.

Doch die Einbeziehung der verschiedenen Communities beschränkt sich nicht auf solche gelegentlichen Treffen. Mit dem Wissenschaftlichen Beirat der Handschriftenzentren begleitet ein Gremium renommierter Fachwissenschaftler:innen das Projekt kontinuierlich, ergänzt um einen Erweiterten Beirat speziell für das Handschriftenportal [nähere Informationen s. Partner]. Außerdem werden für die regulär wiederkehrenden Usability-Tests Wissenschaftler:innen unterschiedlichster Disziplinen sowie verschiedener Generationen und technischer Sozialisation herangezogen.

Weitere wichtige Funktionen, um den Entwicklungsprozess transparent zu halten und Feedbackmöglichkeiten zu geben, ist unsere Website mit dem Twitter-Account und dem Blog, wodurch wir bei einem fortgeschritteneren Entwicklungsstand erste Versionen und Teststellungen öffentlich zugänglich machen können.

7. Was waren nach über einem Jahr der Entwicklungsarbeit die bisher größten Herausforderungen?

Gerade unter dem Aspekt, dass die Wissenschaft mit ihren verschiedensten Ansätzen und Fragestellungen die primäre Adressatin des HSP ist, steht für mich die Ausarbeitung einer userfreundlichen und intuitiv bedienbaren Weboberfläche ganz weit oben. Möglichst alle Nutzer:innen ‚abzuholen‘, war und ist definitiv eine der größten Herausforderungen.

8. In einem Satz: Welches Problem wird das Handschriftenportal für die wissenschaftliche Fachgemeinschaft lösen?

Endlich mit der Fülle von hochwertigen Erschließungsdaten zu den Handschriftenbeständen in Deutschland und einer ständig wachsenden Zahl von Digitalisaten so arbeiten zu können, dass man das ganze Potential dieser Daten ausschöpfen und den Schatz heben kann – alles unter einer Oberfläche!

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