Cervantes war (sozusagen) ein Engländer

„There liued not long since, in a certaine vilage of the Mancha, the name whereof I purposely omit, a Yeoman of their calling that use to pile up in their hals olde Launces, Halbards, Morrions, and such other armours and weapons. “ Mit diesen Worten beginnt die erste englische Übersetzung von Cervantes‘ Hauptwerk El ingenioso hidalgo don Quijote de la Mancha (1605, zweiter Teil 1615) von Thomas Shelton, publiziert 1612, also noch zu Lebzeiten Cervantes‘,  bzw. 1620 (zweiter Teil). Die Quijote-Übersetzung blieb auffälligerweise Sheltons einziges literarisches Vermächtnis und ist, glaubt man Spezialisten, von recht dubioser Qualität: Der wohl wichtigste neuere Cervantes-Übersetzer John Ormsby (The Ingenious Gentleman of Don Quixote de la Mancha, 1885) zeigte sich jedenfalls verwundert darüber, dass Shelton einen Teil von Cervantes‘ Vokabular schlicht unübersetzt ließ und schloss daraus, dass Shelton wohl nur über recht rudimentäre Spanischkenntnisse verfügte. Das konnte, bei einem Werk, das im breiten Konsens der Literaturwissenschaft als der erste (Apuleius und Petronius lassen wir jetzt mal weg) und vielleicht auch größte und wichtigste europäische Roman gilt, durchaus auch schon vor rund 400 Jahren zum Problem werden.

Der zeitgenössischen Popularität des Quijote in England tat Sheltons nicht völlig geglücktes Opus freilich keinen Abbruch. Cervantes erreichte mit seinem pikaresken Meisterwerk von Anfang an breite Leserschichten auf der Insel, und dementsprechend feierten über die Jahrhunderte immer neue Übersetzungen fröhliche Urständ. Bis heute bedeutend und, ja, auch gelesen, sind die als „Jarvis Translation“ bekannte Version des Iren Charles Jervas (1742) und diejenige von Tobias Smollett (1755). Erwähnenswert außer der klassischen viktorianischen Ormsby-Übersetzung sind – auch wenn das jetzt ein großer Sprung ist –  in der Gegenwart unbedingt die anlässlich des 400. Jubiläums des Romans erschienene Version von Tom Lathrop (2005) und die bislang jüngste Übersetzung von James H Montgomery (2006). Montgomery war übrigens, ob Sie es glauben oder nicht, Bibliothekar. Universitätsbibliothekar noch dazu. In Texas.

Um erahnen zu können, was für ein kreativer Kraftakt es war und ist, Cervantes überhaupt zu übersetzen, muss man sich gewahr machen, dass der Quijote, ähnlich wie die Dramen Shakespeares, die Erfahrung der Welt in ihrer ganzen Fülle und Vielfalt verarbeitet, es wimmelt von Witz, Zoten, Tragik, Absurditäten und Pathos. Zudem ist Cervantes‘ Sprache voll von neu geschaffenen Bonmots, Wortspielen, Anspielungen und Malapropismen, also von durch die Figuren falsch verwendeten Wörtern. Wenn Sancho Pansa etwa sagt „yo tengo relucida a mi mujer“ – wenig sinnvoll „ich habe meine Frau ’scheinen‘ lassen“ – und Quijote ihn korrigiert „reducida has de decir, Sancho“ – „überzeugt musst du sagen, Sancho“ –, ist das für den Übersetzer schon nicht so ganz einfach. Montgomery dreht den Malapropismus schlicht und einfach um und macht „reduced“ (was keinen Sinn ergibt) und „induced“ („dazu gebracht“) daraus (vgl. Michael J McGrath, Review of Don Quixote, transl. James H Montgomery, in: Cervantes: Bulletin of the Cervantes Society of America 30 (2010): 193-199). Ungewollt hat Cervantes übrigens auch die englische Sprache ein wenig reicher gemacht: „quixotic“ definiert das Oxford English Dictionary u.a. als „naively idealistic; unrealistic, impracticable; (also) unpredictable, capricious, whimsical“ – das Deutsche hat bezeichnenderweise das eher übellaunig konnotierte „kafkaesk“ zu bieten.

Der weiter oben erwähnte Tobias Smollett ist noch aus einem anderen Grund für die englische Cervantes-Rezeption von Bedeutung: Smollett ist neben Samuel Richardson, Henry Fielding und Laurence Sterne der bedeutendste englische Romancier des 18. Jahrhunderts; seine pikaresken Romane wie The Adventures of Peregrine Pickle (1751) und vor allem The Expedition of Humphrey Clinker (1771) stehen in der direkten Tradition Cervantes‘ und trugen zu dessen Popularisierung in England beträchtlich bei. Die Romane selbst lesen sich übrigens wesentlich launiger als die Titel. Noch deutlicher wird der Quijote-Bezug bei Henry Fielding, dessen ebenfalls sehr munterer, noch heute gut lesbarer Roman Joseph Andrews (1742) den folgenden Titelzusatz trägt: „Written in Imitation of the Manner of Cervantes, Author of Don Quixote.“ Wenn Sie sich an den Abenteuern von Parson Adams, Lady Booby, Peter Pounce und Mrs. Slipslop ergötzen, denken Sie also bitte an Windmühlen. Nicht nur aus heutiger Perspektive ungemein interessante Varianten bieten auch Cervantes-inspirierte Werke wie The Female Quixote (1755) von Charlotte Lennox (übrigens wie Smollett aus Schottland stammend), die religiöse Satire The Spiritual Quixote (1773) von Richard Graves und, jenseits des Atlantiks, Tabitha Gilman Tenneys Female Quixotism (1801), der populärste amerikanische Roman bis zu Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin (1852). Der Topos vom schrulligen Dünnen und bauernschlauen Dicken, gerne kombiniert mit einem Road-Trip, findet sich später, nebst vielen anderen, auch bei Dickens, Mark Twain, Conan Doyle, Tolkien (ja: Frodo ist Quijote, Samwise ist Sancho Pansa!), T. Coraghessan Boyle und vielen anderen wieder. Cervantes hat sich in England und Amerika in vielerlei Hinsicht also bis heute als unsterblich erwiesen.

Großbritannien und Irland sind nun aber, ebenso wie Spanien, Länder mit mehr als einer Sprache. Wie sieht es also mit Cervantes-Übersetzungen in den anderen Sprachen der britischen Inseln aus? Eher dünn, man muss es leider so sagen. Zumindest Teile des Quijote ins Irische übersetzt hat der Priester Peadar Ua Laoghaire (vulgo: Peter O’Leary), die Übersetzung erschien als Don Cíchóté im Jahr 1921, also während der Hochzeit des Revivals der irischen Sprache und kurz vor Gründung des irischen Freistaats. Eine kymrische (walisische) Übersetzung wurde 1955 von J. T. Jones unter dem Titel Anturiaethau Don Cwicsot: Wedi eu trosi a’u cyfaddasu veröffentlicht. Mit Schottisch-Gälisch, Manx und Kornisch fangen wir lieber nicht an: Diese Sprachen sind – Vorsicht, steile These – per se quixotisch, so dass sich eine Übersetzung seit jeher anscheinend erübrigt hat.

Cervantes ist heute vor 400 Jahren gestorben, Shakespeare auch. Shakespeare ist noch dazu auf den Tag genau heute vor 452 Jahren geboren worden. Außerdem ist heute, nicht ohne Grund, der Welttag des Buches. Anlass genug, ein wenig zu recherchieren und zu lesen. Außer den Links im Text empfehlen wir als Einstieg den English Short Title Catalogue, der so gut wie alles listet, was von Beginn des Buchdrucks bis 1800 in England erschienen ist, also auch die frühen Cervantes-Übersetzungen. Wenn’s der digitale Volltext sein soll (und das soll er ja wohl), sind die Adressen der Wahl die Datenbanken Early English Books Online und Eighteenth Century Collections Online, die insgesamt einen sehr großen Teil der englischen Buchproduktion bis 1800 als Digitalisate enthalten, von Cervantes-Übersetzungen bis hin zu Fielding, Smollett und Charlotte Lennox. Das amerikanische Pendant heißt Early American Imprints (als Serie 1 und Serie 2 publiziert) und ist ebenfalls eine Fundgrube. Englische Cervantes-Übersetzungen finden Sie im Stabikat, Literatur von und zu Cervantes zuhauf im Ibero-Amerikanischen Institut, außerdem im Stabikat und Stabikat+ sowie in Auswahl im Lesesaal in der Staatsbibliothek Unter den Linden. Literatur zur Cervantes-Rezeption gibt es reichlich im IAI und in der Stabi. Soll’s direkt an die digitale Quelle gehen, lohnt ein Blick in die digitalen Sammlungen der spanischen Nationalbibliothek. Enjoy! – ¡Que os divirtáis!

 

23.4.1616 – da war doch noch was anderes… zu Shakespeare in Spanien geht’s hier.

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