Digitale Lektüretipps 57: Im Zeichen des Hieronymus

Ein Beitrag aus unserer Reihe Sie fehlen uns – wir emp-fehlen Ihnen: Digitale Lektüretipps aus den Fachreferaten der SBB

Schritt für Schritt öffnen die Lesesäle wieder ihre Türen und verstärken die Zugangsmöglichkeiten zu unseren Ressourcen. Gerne versorgen wir Sie aber weiterhin mit unseren digitalen Lektüretipps.

Haben Sie beim Ansehen einheimischer Bestsellerlisten schon einmal einen Widerspruch gespürt? Neben deutschen wimmelt es darauf von amerikanischen, skandinavischen und anderen Autoren, doch die Titel sind (fast) alle deutsch! Spätestens wenn Sie gefragt werden, von wem Romane wie „Ein Sohn ist uns gegeben“ oder „Ihr Königreich“ sind, wären Sie dankbar für einen Hinweis auf den Originaltitel oder zumindest die Angabe, ob es sich um eine Übersetzung aus ggf. welcher Sprache handelt. Denn schließlich hat Donna Leon nicht „Ein Sohn ist uns gegeben“ geschrieben, sondern „Unto us a son is given“, der neue Roman von Jo Nesbø heißt „Kongeriket“, nicht „Ihr Königreich“, und genauso wenig hat Elena Ferrante „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ geschrieben, sondern „La vita bugiarda degli adulti“. Es sind Übersetzungen, in den genannten Fällen von Werner Schmitz, Günther Frauenlob bzw. Karin Krieger, die uns die Werke nahebringen. Und so war es schon immer. Heutzutage nennen deutsche Verlage immerhin in den Büchern selbst i.d.R. den Originaltitel und geben an, wer übersetzt hat – auf den Bestsellerlisten beispielsweise sucht man solche Angaben vergeblich.

Um die Öffentlichkeit für die Bedeutung des Übersetzens zu sensibilisieren, erklärte die Fédération Internationale des Traducteurs (FIT) im Jahre 1991 den 30. September zum Internationalen Übersetzertag. Er wurde im Mai 2017 von den Vereinten Nationen als International Translation Day anerkannt. Seit einigen Jahren begeht auch der Verband Deutschsprachiger Übersetzer Literarischer und Wissenschaftlicher Werke (VdÜ) den 30. September als Hieronymustag: Literaturübersetzerinnen stellen in Lesungen und Gesprächen ihre Arbeit vor.

Doch warum dieses Datum, und warum Hieronymus? Namensgeber ist Sophronius Eusebius Hieronymus (um 345 ‑ 419/20), der die erste vollständige lateinische Bibelübersetzung, die „Vulgata“, schuf. Diese Leistung qualifizierte ihn zum Schutzpatron der Übersetzerzunft. Sein Todestag am 30. September wurde ihm als Gedenktag gewidmet.

Auch wir möchten den Tag standesgemäß begehen und stellen Ihnen ein Werk vor, das ähnlich wie seine Protagonisten mehr in den Fokus gerückt zu werden verdient: das Germersheimer Übersetzerlexikon  (kurz UeLEX).

Herausgegeben wird es vom Germersheimer Fachbereich  Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als digitales, online frei zugängliches Nachschlagewerk zur Kulturgeschichte des Übersetzens. Die darin publizierten Texte dürfen ausdrücklich für private, wissenschaftliche und nicht kommerzielle Zwecke genutzt und zitiert werden. Im Frühjahr 2015 erschienen die ersten Beiträge. Das Vorhaben geht auf eine Konferenz vom Juni 2013 zurück, auf der über die mögliche Konzeption eines Übersetzerlexikons beraten wurde. Der im Anschluss daran entwickelte „Leitfaden“ zur konkreten inhaltlichen Ausgestaltung ist, geringfügig aktualisiert, im Online-Lexikon hintergelegt.

Inhaltlich geht es in erster Linie, ganz klar, um Personen, die übersetzt haben. Zu Grunde gelegt ist eine Orientierung auf die deutsche Sprache und auf die neuzeitliche Epoche. Das Lexikon widmet sich Literaturübersetzern wie auch solchen philosophischer, naturwissenschaftlicher, religiöser oder politischer Texte. Darunter befinden sich Namen, die uns aus anderen Zusammenhängen bekannt sind – bisweilen überraschend, wie z.B. Rosa Luxemburg oder Georg Forster. Besondere Aufmerksamkeit verdienen aber gerade auch die anderen, die „Nur-Übersetzer“, die kaum je andernorts erwähnt wurden und werden.

Zugang zu den einzelnen Beiträgen bietet eine alphabetische Liste der Übersetzernamen. Jeder vollständige Eintrag besteht aus einem essayistischen Porträt und einer Bibliographie. Die Essays zu Leben und Werk heben nicht nur den Kontext der translatorischen Tätigkeit der Porträtierten heraus, sondern gehen idealerweise auch auf deren eigene übersetzungspoetologische Äußerungen ein. Abschließend werden für weitergehende Studien Hinweise auf Sekundärliteratur und die Quellenlage (etwa Nachlässe, Archivbestände) gegeben. Besonderer Stellenwert kommt dem bibliographischen Teil zu. Er ist sehr detailliert angelegt und strebt Vollständigkeit hinsichtlich des übersetzerischen Œuvres der jeweiligen Person an: Sowohl selbständig und unselbständig erschienene als auch unveröffentlichte Übersetzungen werden, soweit ermittelt, aufgeführt. Dazu kommen Herausgeberschaften, Originaltexte – unter besonderer Berücksichtigung translationstheoretischer Arbeiten – und schließlich Sekundärliteratur. Je weniger bekannt und beforscht die Person ist, desto größere Vollständigkeit wird auch hier angestrebt. Empfangene Literaturpreise werden in einer Rubrik am Ende aufgeführt. Es gibt ein umfassendes Verlinkungssystem zwischen Namen, Titeln, Preisen, Sprachen, über das alle relevanten Einträge zusammengeführt werden können.

Eine andere Zugriffsoption gruppiert die Personen nach den Sprachen, aus denen sie übersetzt haben – es liegt in der Natur der Sache, dass hier einige Namen mehrfach erscheinen. Dieser Einstieg ermöglicht prinzipiell einen Überblick darüber, aus welchen Sprachen besonders häufig und aus welchen überhaupt ins Deutsche übersetzt wurde. Dabei verwundert es nicht, dass Englisch, Französisch, Russisch und Italienisch die vorderen Plätze einnehmen.

Thematische Artikel  sind ergänzend vorgesehen, bislang aber kaum ausgearbeitet.

Auch wenn der betrachtete Zeitraum konzeptionell von Luther bis zu Personen reicht, auf deren neue Übersetzungen wir uns weiterhin freuen können, gehen die vorliegenden Einträge nicht weiter als bis in das 18. Jahrhundert zurück. Aufschluss darüber gibt eine Zeitachse, die alle einem beliebig wählbaren Zeitraum zugehörigen Namen aus der Datenbank herausfiltert. Unter Forschung wird diese Zeitachse noch einmal angeboten, zusammen mit einer kleinen Chronik der Germersheimer Übersetzerforschung.

Eine Stichwortsuche „In Beiträgen und Bibliographien“ kann durch Eingabe eines Suchbegriffs im Suchschlitz rechts außen aktiviert werden.Die Lemmata selbst werden davon jedoch nicht erfasst. Hierfür gibt es die alphabetische Liste Alle Artikel, zu der man mit Klick auf Übersetzer gelangt. Neben der Namensliste gibt es dort zur Auswahl eine Gesamtliste aller Einträge, jeweils separat die thematischen Artikel und Informationen zu den Literaturpreisen – letztere Option ist besonders interessant, weil auf die Preise kein anderer systematischer Zugriff angeboten wird.

Sollten Sie die Übersetzer Ihrer Lieblingslektüre vermissen, kann das zum einen daran liegen, dass das Lexikon keine Vollständigkeit anstrebt. Anliegen ist es, bedeutende und interessante Personen vorzustellen, vor allem solche mit in irgendeiner Hinsicht innovativer Übersetzungsleistung. Die verschiedenen Zeiträume innerhalb der neuzeitlichen Epoche sollen abgedeckt, möglichst viele Sprachen und Kulturräume berücksichtigt werden, was ausdrücklich kleine Sprachen und distante Kulturräume einschließt. Ziel ist es schließlich, neue Perspektiven auf die Geschichte des Übersetzens zu gewinnen.

Zum anderen liegt kein fertiges Produkt vor, sondern es werden fortlaufend neue Beiträge ergänzt. Etwas versteckt gibt es eine Liste der in Arbeit befindlichen Artikel: Die über 100 Positionen machen deutlich, dass noch eine Menge geplant ist. Bislang werden überdies nur Übersetzer aufgenommen, die ins Deutsche übersetzt haben. Eine Erweiterung um jene, die aus dem Deutschen übersetzt haben, ist für die Zukunft denkbar.

So sehr dieses Projekt eine Lücke füllen mag, so ist es doch nicht das erste seiner Art. Dieser Rang gebührt dem Svenskt Översättarlexikon, das 2009 an den Start ging und dem Germersheimer Redaktionsteam als Vorbild diente.

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