Die Ahndung von NS-Kriegsverbrechen als Anliegen der Polnischen Exilregierung (1939-1945)

Gastbeitrag von Dominika Uczkiewicz

Für Jahrzehnte stand der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess im Vordergrund der historischen und rechtshistorischen Forschungen über die Strafverfolgung der während des Zweiten Weltkriegs begangenen Kriegsverbrechen. In den letzten drei Dekaden hat jedoch die „weniger bekannte“ Geschichte der juristischen Auseinandersetzung mit den NS-Gräueln immer größeres Interesse unter den Forschern geweckt: die alliierten NS-Prozesse, die NS-Prozesse in der Bundesrepublik, die regionalen Strafverfahren in unterschiedlichen europäischen Ländern sowie die Entwicklung einer völkerstrafrechtlichen Begrifflichkeit und die Ausarbeitung von Konzeptionen zur Ahndung von Kriegsverbrechen, wie sie (vor dem Ausbruch und) während des Zweiten Weltkrieges erfolgt waren.

Einen interessanten und immer noch wenig erforschten Blick auf diese Problematik bietet die Perspektive der europäischen Exilregierungen, und besonders der polnischen, die ihre Arbeiten hinsichtlich der Ahndung und Bestrafung von Kriegsverbrechen bereits Ende 1939 begann und den ganzen Krieg hindurch konsequent fortsetzte.

Die strafrechtliche Verfolgung der für die „unschuldigen Opfer der Besatzung“ Verantwortlichen wurde in den ersten Beschlüssen der polnischen Exilregierung vom Herbst 1939 angekündigt und im Februar 1942 in das offizielle Regierungsprogramm aufgenommen. Entsprechend arbeiteten die polnischen Juristen und Diplomaten seit den ersten Kriegsmonaten auf innen- und außenpolitischer Ebene an der Entwicklung einer Strategie in Hinblick auf die NS-Kriegsgräuel. Diese erfolgte in drei Richtungen:

  1. Erfassung der Dokumentation von Völkerrechtsverstößen der Wehrmacht und der NS-Verwaltung sowie Sicherung des Beweismaterials für die künftigen Strafverfahren;
  2. Durchführung von internationalen Propagandaaktionen, deren Ziel es war, die im besetzten Polen verübten Kriegsverbrechen offenbar zu machen, ihre straf- und völkerrechtliche Verfolgung anzukündigen und diesbezüglich die Unterstützung der Alliierten zu gewinnen;
  3. Erarbeitung der Rechtsgrundlagen für die künftigen Kriegsverbrecherprozesse.

Fortsetzung und Koordination dieser Arbeiten spiegelten sich in der Struktur der polnischen Exilregierung wider. Bei den meisten Ministerien im Kabinett von Ministerpräsident Władysław Sikorski entstanden spezielle Dokumentationsstellen oder Abteilungen „für deutsche Angelegenheiten“. Im Mittelpunkt dieser Struktur standen das Innenministerium mit dem Ende November 1939 eingerichteten „Register der Verbrechen“, welches im Jahr 1941 um eine separate „Kartei der Deutschen in Polen“ erweitert und im November 1943 in das Büro für Kriegsverbrechen, unter dem Vorsitz von Dr. Jerzy Litawski, verlegt wurde; das von Edward Raczyński geleitete Außenministerium mit dem Netz der diplomatischen Vertretungen, welche ständig in die Übermittlung von Berichten aus okkupierten Territorien, Flüchtlingsfürsorge, Einleitung von Rettungsmaßnahmen wie in die internationalen Informationsaktionen der Exilregierung involviert waren; die Zentrale für Information und Dokumentation (ab September 1940 Ministerium für Information und Dokumentation unter Leitung von Prof. Stanisław Stroński), von der alle offiziellen Berichte, Weißbücher, Presse- und Radiomitteilungen über Ausmaß und Skala der NS-Kriegsgräuel verfasst und in polnischer, englischer und französischer Sprache veröffentlicht wurden; das Justizministerium, das bereits im Frühjahr 1942 auf den Tagungen der interministeriellen Konferenz zur „strafrechtlichen Verantwortung der Deutschen für die auf dem besetzten Territorium begangenen Verbrechen“ mit der Erarbeitung eines Dekrets des Präsidenten der Polnischen Republik zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Kriegsverbrechen begonnen hatte, welches letztlich am 30. März 1943 verabschiedet wurde (Dekret Prezydenta RP z 30. marca 1943 r. o odpowiedzialności karnej za zbrodnie wojenne).

Polskie zakładniczki w drodze na egzekucję w lesie koło Palmir

Polish women led to mass execution in a forest near Palmiry village. – Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Palmiry_ostatnia_droga.jpeg. – Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Alle diese Arbeiten und Bestrebungen waren darauf gerichtet, die NS-Verbrechen offenbar zu machen und die Unterstützung der Alliierten und der neutralen Staaten bei der Forderung nach Verfolgung der Kriegsverbrecher zu gewinnen. Hinsichtlich der NS-Grausamkeiten betrieb die Polnische Exilregierung von den ersten Kriegswochen an mit großem Nachdruck aktive innen- und außenpolitische Propaganda. Damit versuchten die polnischen Diplomaten, die Regierungsvertreter anderer Länder einzubeziehen – so wurde im April 1940 ein Beschluss der französischen, britischen und polnischen Regierung (Deklaracja rządów Polski, Wielkiej Brytanii i Francji potępiającej metody okupanta niemieckiego / Declaration on German Atrocities in Poland) verabschiedet, in dem die Ministerpräsidenten Sikorski, Chamberlain und Daladier „die Verantwortung der Deutschen“ für die in Polen begangenen Kriegsverbrechen feststellen und eine „Entschädigung für das der polnischen Bevölkerung angetane Unrecht“ zusichern. Im Dezember 1940 veröffentlichten die Exilregierungen Polens und der Tschechoslowakei eine gemeinsame Protestnote (The Times, 12th November und 20th December, 1940) gegen den verbrecherischen Charakter der deutschen Besatzung, und ein Jahr später, im November 1941, während der vom Polnischen Außenministerium organisierten Konferenz der okkupierten Länder, legten sie das Projekt eines Abkommens zur Verfolgung und Verurteilung von NS-Kriegsverbrechern vor. Aufgrund dieses Entwurfs bereiteten die Vertreter der Regierungen Belgiens, Griechenlands, Norwegens, Jugoslawiens, Luxemburgs, der Niederlande, der Tschechoslowakei, Polens und von France Libre den Text einer gemeinsamen Erklärung zur Verfolgung von Kriegsverbrechern vor. In der am 13. Januar 1942 im Londoner St. James‘s Palace abgeschlossenen Erklärung (Declaration signed at St. James’s Palace) formulierten die Signatarländer als ihr gemeinsames Ziel und ihre gemeinsame Forderung die Verurteilung „aller schuldigen und für die Kriegsverbrechen verantwortlichen“ Täter und die Einrichtung einer effektiven internationalen Strafgerichtsbarkeit. Sowohl die Erklärung von St. James’s wie unterschiedliche Initiativen der Sikorski-Regierung und anderer Exilregierungen, die auf eine Beschleunigung der Festlegung von technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen für die internationale Ahndung von NS-Kriegsverbrechen zielten, wurden von den USA und Großbritannien mit großer Reserve betrachtet und dadurch ihrer Erfolgschancen in großem Maße beraubt. Ihre ersten Entscheidungen über die Details der Strafverfolgung von NS-Kriegsverbrechern trafen die Großmächte erst im Jahr 1945, ohne die europäischen Exilregierungen an Verhandlungen darüber zu beteiligen. Zu diesem Zeitpunkt, also im Jahr 1945, war auch eine der Hauptforderungen der war crimes policy der europäischen Exilregierungen, nämlich die NS-Verbrechen aufzuhalten und die verfolgten Gruppen, vor allem die jüdische Bevölkerung der okkupierten Territorien, vor einer totalen Vernichtung zu retten, nicht mehr realisierbar.

In Anbetracht der Diskrepanz zwischen der passiven und zurückhaltenden Haltung der Westalliierten gegenüber der Frage der Bestrafung von NS-Kriegsverbrechern einerseits und den intensiven Bemühungen der europäischen Exilregierungen um eine internationale Verurteilung der NS-Verbrechen andererseits, kann der Blick auf den Entstehungsprozess der Kriegsverbrecherpolitik der Alliierten in den Jahren 1939-1945 aus der Perspektive der okkupierten Länder und ihrer politischen Vertreter im Exil die bisherigen Forschungen zur Geschichte der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen um wichtige Erkenntnisse bereichern. Als besonders beachtenswert erweisen sich in dieser Hinsicht die Arbeiten der polnischen Exiljuristen und Diplomaten, die seit Ende 1939 das Problem der Verfolgung und Bestrafung von NS-Verbrechern als vorrangig betrachteten und bereits in den ersten Kriegsjahren danach strebten, die Prinzipien der Kriegsverbrecherverfolgung zusammen mit Vertretern der europäischen Exilregierungen und der alliierten Großmächte auszuarbeiten.

Ausgewählte Literatur

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Frau Dominika Uczkiewicz, Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien, Universität Wrocław, war im Rahmen des Stipendienprogramms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz im Jahr 2016 als Stipendiatin an der Staatsbibliothek zu Berlin. Forschungsprojekt: „Polnische Exilregierung und die Frage der Bestrafung von NS-Kriegsverbrechen“

Projektpräsentation „Langer Weg nach Nürnberg : Polnische Exilregierung und die Frage der Bestrafung von NS-Kriegsverbrechen“ am 11. 5. 2016

 

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