100 Jahre Privatdrucke & Kalender der H. Berthold AG

Ein Gastbeitrag von Kerstin Wallbach, Marcel Ruhl (Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin) und Dr. Dan Reynolds (Hochschule Niederrhein), Mitglied des wissenschaftlichen Beirats unseres gemeinsamen digiS-Digitalisierungsprojekts Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access mit Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Erik Spiekermann Foundation gGmbH und Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin.

Ein großer Teil der im Rahmen unseres erwähnten Kooperationsprojekts digitalisierten Schriftmuster wurde in Hausdruckereien von Schriftgießereien hergestellt. Neben der H. Berthold AG besaßen zahlreiche weitere Schriftgießereien, aber auch nahezu jede größere Behörde und Verwaltung, eigene Druckereien. Zu den von der H. Berthold AG herausgegebenen Druckwerken gehören auch Kalender und die sogenannten Berthold-Privatdrucke, welche nicht öffentlich und in geringen Auflagen von ca. 500 Stück erschienen. Sie wurden als Jahresgaben an Mitglieder von Buchgesellschaften versendet oder dienten der Kundenbindung. Gleichzeitig waren sie Schriftmuster und Werbung für jeweils neue Schriften.

Einige der Berthold-Privatdrucke widmeten sich historischen Themen und waren damit zugleich Beiträge zur Geschichte des deutschen Schriftgießereigewerbes. Diese Art von Privatdrucken war in den Schriftgießereien dieser Zeit weit verbreitet. Zu erwähnen sind hier besonders Druckwerke von Genzsch & Heyse in Hamburg, der D. Stempel AG in Frankfurt am Main und Wilhelm Woellmer in Berlin. Für die Zeit der 1920er-Jahre war die Reihe der H. Berthold AG aufgrund ihres Themenspektrums jedoch vermutlich einzigartig und ist am besten vergleichbar mit der Trajanus-Presse, die bei der D. Stempel AG in den 1950er-Jahren entstand.

Oscar Jolles und die Berthold-Privatdrucke

Die ersten drei Berthold-Privatdrucke erschienen im Jahr 1923 und damit vor 100 Jahren. Bis zum Tod von Oscar Jolles (1860-1929), Direktor der H. Berthold AG von 1904-1929, gab es 21 Bände. Oscar Jolles war seit 1924 Mitglied sowie anschließend mehrjähriger stellvertretender Vorsitzender der Maximilian-Gesellschaft und gehörte sowohl zu den Gründungsmitgliedern der Soncino Gesellschaft der Freunde des jüdischen Buches e.V. als auch des Berliner Bibliophilen-Abend e.V.

Die Berthold-Reihe trug die Untertitel „Zur Geschichte und Technik des Buchdruckes“ sowie „Zur Literatur, Kunst und Wissenschaft“. Beides erinnert an Veröffentlichungen der Buchkunst-Bewegung in England um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Nach 1929 ist kein weiterer Band bekannt. Oscar Jolles Sohn Heinz, später Henry Jolles (1902-1965)[1] stiftete 1930 eine Publikation für den Berliner Bibliophilen-Abend e.V. „im Gedenken an die Tradition seines Vaters“ (H. Werle, 2019). In dieser Publikation von 2019 wird auch erwähnt, dass 1932 noch ein zusätzlicher Privatdruck anlässlich des Goethe-Jahres mit dem Titel „Reinecke Fuchs“ erschienen sein könnte.

I.4.327-352 NL Bernd Möllenstädt, Besucherbuch der Leipziger Filiale der H. Berthold AG mit Widmungen von Oscar Jolles und Erwin Graumann aus dem Jahr 1924.

 

Die Hausdruckerei der H. Berthold AG in Berlin

1895 eröffnete die H. Berthold AG eine eigene Druckerei in ihrem Hauptgebäude in der Belle-Alliance-Straße 88 (heute: Mehringdamm 43). Der erste Leiter der Hausdruckerei war Hermann Hoffmann, der einige der bekanntesten Berthold-Schriften entwarf wie die „Block“ und die „Reklameschrift Herold“. In der Hausdruckerei wurden neben Schriftproben, Akzidenzen, Druckmustern, Musterausstattungen, Faltblättern, Kalendern und Sonderdrucken u.a. auch Nachdrucke wie zum Beispiel 1920 die Erinnerungen von Ferdinand Theinhardt hergestellt.[2] In Werbeanzeigen für Berthold-Drucke wird auch ein Standort in der Gneisenaustr. 27 in Berlin als „Schriftgießerei H. Berthold, Abt. Privatdrucke“ bezeichnet. Dabei handelte es sich um die ehemalige Fabrik der Schriftgießerei Emil Gursch, die 1918 von der H. Berthold AG übernommen wurde und dessen ehemaliger Leiter Erwin Graumann bei der H. Berthold AG beschäftigt blieb. Möglicherweise wurde die ehemalige Gursch-Hausdruckerei für die Realisierung der Berthold-Privatdrucke umgenutzt.

Berthold-Privatdruck Nr. 3 (1923)

Von den 21 Bänden der Berthold-Privatdrucke sind in der Bibliothek des Deutschen Technikmuseums in Berlin aktuell 12 Bände verzeichnet, die direkt aus der H. Berthold AG stammen. Die Nummern der Ausgaben sind, ergänzt um die Berthold-Signatur in […]:

1 [1923; Berthold 0680], 9 [1924; Berthold 0439], 10 [1924; Berthold 0281], 11 [1925; Berthold 0290], 12 [1925; Berthold 0291], 13 [1925; Berthold 0302],15 [1926; Berthold 0527], 17 [1926; Berthold 0198],18 [1926; Berthold 0288; Berthold 0289],19 [1927; Berthold 0285], 20 [1928; ohne Berthold-Signatur], 21 [1928; Berthold 0287].

Von besonderer Bedeutung für das Verständnis des Schriftgießereiwesens ist der Berthold-Druck Nr. 3 Die deutsche Schriftgießerei: Eine gewerbliche Bibliographie. Das Buch wurde von Oscar Jolles herausgegeben, unter Mitwirkung von Friedrich Bauer, Gustav Mori und Heinrich Schwarz, bearbeitet von Dr. Lothar Freiherr von Biedermann. Es ist in einem festen Einband der Buchbinderei E. A. Anders aus Leipzig gebunden (16,7 × 23,8 cm; 288 Seiten). Die verschiedenen Kapitel enthalten Auflistungen historischer Texte zum nationalen Schriftgießereigewerbe sowie Veröffentlichungen zu verschiedenen technischen und wirtschaftlichen Themen. Fast 100 Seiten betreffen eine Schriftproben-Bibliografie, die eine besonders wertvolle Quelle sind. Trotz des Erscheinungsdatums von vor 100 Jahren ist das Buch bis heute die bedeutendste Bibliografie deutscher Schriftproben. Auch wenn eine Aktualisierung dringend erforderlich wäre, verweisen mehrere Bibliotheken zu Recht auf dieses Buch von Oscar Jolles, um die Exemplare aus ihren Sammlungen zu katalogisieren.

Die Innenseiten des Berthold-Privatdrucks Nr. 3 wurden in Hellerau von Jakob Hegner (1882–1962) gedruckt. Dabei ist das größte Gestaltungsmerkmal die Schrift, die mit „echten alten Walbaum-Schriften“ von Justus Erich Walbaum (1768-1837) gesetzt wurde. Der Leipziger Verlag F. A. Brockhaus hatte Walbaums Schriftgießerei 1836 übernommen. 1918 veräußerte der Verlag die Schriftgießerei wiederum an die H. Berthold AG. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bemühte sich die Brockhaus’sche Schriftgießerei darum, die Walbaum-Schriften wieder in Umlauf zu bringen. Der Durchbruch für die Schrift(typen) – im Gewerbe spricht man in solchen Fällen von „Revivals“ – gelang erst, nachdem die historischen Schriften bei Berthold aufgenommen worden waren. Seitdem wurde die „Walbaum-Antiqua“ wieder zu einer verbreiteten Schrift für Fließtexte, vor allem im deutschsprachigen Raum.

Berthold Privatdruck Nr. 3

Berthold Privatdruck Nr. 3

 

Kalender 1922 – 1933

Zu den in der Berthold-Hausdruckerei hergestellten Drucksachen gehörten auch Kalender. Aufgrund des Charakters als Verbrauchsgegenstand und der dafür verwendeten sehr dünnen Papiere sind heute noch vorhandene Kalender aus der Zeit vor 1933 etwas sehr Besonderes.

Mindestens zwei der Berthold-Kalender wurden von Herbert Bayer (1900-1985) gestaltet. Von den sechs im Nachlass von Bernd Möllenstädt erhaltenen Kalendern aus der Berthold-Bibliothek kann der Kalender von 1932 sicher Bayer zugeordnet werden. Ein Kalender von 1934 ist nachweisbar unter https://www.moma.org/collection/works/7503. In einer Biographie von Fiona MacCarthy über Walter Gropius wird zudem erwähnt, dass Herbert Bayer im Jahr 1934 versuchte, Ise Gropius für die Gestaltung eines weiteren Kalenders für die H. Berthold AG zu gewinnen. Da diese Information aus einem Brief von Ise Gropius an Walter Gropius aus dem Mai 1934 stammt, ist davon auszugehen, dass es den Kalender für 1935 betraf, da der 1934er Kalender zu diesem Zeitpunkt schon fertiggestellt gewesen sein müsste.

Bei den sechs Kalendern aus dem Nachlass von Bernd Möllenstädt enthält der Eintrag in […] jeweils die Signatur der Berthold-Bibliothek.

Kalender von 1928 [Berthold IV G-6]

I.4.327-325, Kalenderfragment, o. J

I.4.327-326, Kalenderfragment. o. J. [IV G-14]

I.4.327-327, Kalender von 1932 [IV G-15], Gestaltung: Herbert Bayer

I.4.327-328, Kalender von 1931

I.4.327-329, Kalender von 1922 [IV G-10]

 

Verzeichnung eines Schriftgut-Bestandes von 230 Aktenordnern

Aktuell wird im Historischen Archiv des Deutschen Technikmuseums ein ca. 230 Aktenordner umfassender Schriftgut-Bestand der Firma Berthold verzeichnet. Darunter befinden sich neben Protokollen aus der Abteilung Schriftträgerfertigung auch 54 Ordner aus der Schriftschneiderei. Diese stammen aus der Zeit von 1920 bis ca. 1975 und beinhalten überwiegend handschriftlich korrigierte Probeandrucke einzelner Lettern, welche bei der Herstellung der „Hardware“ einer Schrift entstanden sind. Diese Probeandrucke wurden von den Mitarbeitern im Produktionsprozess nach Umsetzung der Korrekturen der Schriftgestalter immer wieder neu angefertigt und enthalten zum Teil das Datum des Drucks sowie den Gießer der Lettern. Diese Unterlagen stehen nach Abschluss der Verzeichnung und technischen Bearbeitung Ende 2023 der Forschung zur Verfügung.

I.2.046 441, Probedruck der fetten Berthold Fraktur, 04.09.1920

 

Literatur und Quellen

I.4.327 NL Bernd Möllenstädt

I.2.046 FA Berthold AG

Fiona MacCarthy, Walter Gropius: Visionary founder of the Bauhaus. Faber & Faber, London 2019

Hermann Werle, Oscar Jolles. Zur Erinnerung an einen Buchliebhaber, Förderer der Gutenberg’schen Kunst und hebräischer Lettern, Arbeitskreis Berthold AG, Berlin, 2019

Anmerkungen

[1] Heinz Jolles, später Henry Jolles, war 1925 Solo-Pianist der Berliner Philharmoniker und später Leiter der Klavierklasse Klindworth-Scharwenka-Konservatorium in Berlin. Nach seinem Umzug nach Köln verlor er 1933 dort alle Ämter und seine Stelle als Professor an der Musikhochschule und emigrierte nach Paris. Da Gertrud und Marina Jolles, Ehefrau und Tochter von Oscar Jolles, Marina ebenfalls Musikerin, 1943 in Theresienstadt zu Tode kamen, überlebte Heinz Jolles, als einziger der Familie in Brasilien, wohin ihm und seiner Frau 1940 die Flucht gelang. Auch der Bruder von Oscar Jolles und dessen Ehefrau, Stanislaus und Adele Jolles, hatten eine enge Verbindung zu Berlin. Stanislaus Jolles war Mathematikprofessor, Dekan und seit 1927 Ehrenbürger der Technischen Hochschule zu Berlin sowie Mitglied der Deutschen Akademien der Naturforscher Leopoldina. Adele Jolles, geb. Ehrensaal, kam1943 in Theresienstadt zu Tode.

[2] Die erste Ausgabe von Erinnerungsblätter aus meinem Leben ließ Ferdinand Theinhardt (1820–1906) als Geschenk für seine Freunde bei Gebr. Unger in Berlin drucken.

 

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