Das besondere Objekt: „Das Mädchen an der Orga Privat“ von Rudolf Braune (1930)
Die Blog-Reihe „Das besondere Objekt“ möchte Ihnen in lockerer Folge besondere Titel aus den Beständen der Staatsbibliothek vorstellen. Unterschiedlichste Themen sollen zur Sprache kommen und werden Sie vielleicht in unsere Lesesäle locken.
„Das Mädchen an der Orga Privat“ von Rudolf Braune
„Eines Morgens, im Frühjahr 1928, kommt ein junges Mädchen mit dem Leipziger Zug auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin an. Niemand erwartet sie.“ (1)
Berufstätige Frauen in den 1920er Jahren

Arbeitssuchende um 1928, Material/Technik: Fotografie, Aufnahmeort: Berlin, Deutsches Reich (Deutschland), Copyright: bpk
Mit nur zwei Sätzen zeichnet Rudolf Braune, der 1928 selbst erst 21 Jahre alt war, ein viel größeres Bild als eine schlichte Ankunftsszene. Das junge Mädchen ist ganz allein in einer gleichgültigen Großstadt. Und warum? „Die Enge im elterlichen Hause, der ewige Streit und Krach paßten ihr nicht mehr.“ (2) Wir erfahren nach und nach, dass sich Erna selbst eine Stelle gesucht hat, was aus der Ferne in Vor-Internet-Zeiten viel schwieriger gewesen sein muss als heute, und dass sie noch keine Unterkunft hat, als sie ankommt. Die goldenen Zwanziger? Sie klingen in diesem „kleinen Roman aus Berlin“, wie der Untertitel lautet, nur ganz von ferne an und haben mit der Lebenswirklichkeit der allermeisten Menschen Berlins nichts zu tun.
Das junge Mädchen findet nach einem langen Tag endlich ein halbwegs bezahlbares Zimmer. Damit hat sie Glück! Es gibt immer noch den „Schlafgänger“, der nur für ein paar Stunden am Tage oder in der Nacht das Recht hat, ein fremdes Bett zu benutzen. (3)

Rudolf Braunes „Das Mädchen an der Orga Privat“. Coverausschnitt der Originalausgabe von 1930
Erna Halbe – so heißt sie – war den ganzen Tag auf den Beinen, Straßenbahnen sind zu teuer. Am nächsten Tag reiht sie sich ein in die Riege der anderen jungen Mädchen in der Schreibstube einer nicht näher definierten Firma, und bekommt die älteste, klapprigste Schreibmaschine von allen zugewiesen: die Orga Privat. Und nun beginnt eine Coming of Age – Geschichte, bei der sich vor unseren Augen die prekäre Lebenssituation junger Frauen in Berlin entwickelt, die die Erfüllung ihrer Träume auf Teilhabe an einem gesicherten Leben, das vielleicht sogar mehr zu bieten hat als ein warmes Bett und einen gefüllten Magen. Erna verbietet sich jede Illusion, doch das gilt nicht für jedes Mädchen im Büro, und manche haben dafür teuer zu zahlen.
Woher weiß der junge Autor so viel über arbeitende Menschen in der Großstadt?
Rudolf Braune kennt sie offenbar selbst, die „Enge im elterlichen Hause“, und es scheint, es handle sich eher um die geistige als um die räumliche Enge. „Geboren am 16. Februar 1907 in der Dresdner Vorstadt Löbtau als Sohn eines ‚kleinen Reichsbahnbeamten‘ ist dem jungen Rudolf der Besuch der Oberschule nur unter großen, persönlichen Opfern des Vaters möglich.“ (4). Damals musste für den Besuch einer höheren Schule Schulgeld bezahlt werden. Ist es ein Kompromiss, nach 8 Jahren, also nach Ende der Schulpflicht, die teure Schule zu verlassen, oder Braunes eigener Entschluss, um die Klagen der Eltern nicht mehr hören zu müssen? Wird er gar aufgrund seines rebellischen Wesens der Schule verwiesen, so gut sein Wissen von Literatur und Geschichte auch sein mag? Die Idee des Sozialismus in die Welt zu bringen, dafür brennt er. Braune plant mit 15 Jahren und gründet mit 17 Jahren mit Freunden eine linke Jugendzeitschrift. Mit 18 Jahren geht der junge Mann endgültig seinen eigenen Weg und zieht nach Düsseldorf. Damit ist er seiner Heldin an der Orga Privat also sehr ähnlich.

Rudolf Braune als 18jähriger, 1925 (6)
Sein politisches Engagement setzt Rudolf Braune auch in der großen Stadt fort. Leidenschaftlich und scharfzüngig kämpft er für die Sache der Werktätigen, schreibt Artikel und schart Mitstreiter um sich. Gleichzeitig zeigt er sein literarisches Talent in Kurzgeschichten und zwei Romanen, in sensiblen, fast poetischen Worten, die jede Übertreibung vermeiden. Als hätte er geahnt, dass ihm nur ein kurzes Leben vergönnt sein würde, kostet er jede Minute in vollen Zügen aus – in der Natur bei Wanderungen oder am Schreibtisch und unter Gleichgesinnten. „Wir verlebten viele schöne Stunden gemeinsam mit Rudolf Braune, seiner Braut Berti, unseren Freunden und Genossen…“ (5). Jene Berti war offenbar seine Inspiration für den vorliegenden Roman; mehr ist leider nicht über sie bekannt.
Über den jungen Autor (6) wissen wir bis heute fast noch weniger als über seine Heldin selbst. Rudolf Braune ertrinkt im Alter von 25 Jahren bei einem Badeausflug. Was wäre aus ihm geworden? Über das junge Mädchen an der Orga Privat schreibt er am Ende:
„Sie verschwindet unseren Blicken im Gewühl. (…) Langsam verblaßt ihr Name. Was sie tat, wird nicht vergessen, es wächst und wächst.“
Lesen Sie dieses Buch in der Originalausgabe hier – am angenehmsten auf dem Tablet.
Braune, Rudolf: Das Mädchen an der Orga Privat. Ein kleiner Roman aus Berlin. Frankfurt/M. 1930. Signatur: Yx 56298<a>
Literatur
Braune, Rudolf. Das Mädchen an der Orga Privat. Ein kleiner Roman aus Berlin. Berlin 1975. Signatur: 29MA4920 am Standort Potsdamer Platz ausleihbar.
Hollender, Martin: „eine gefährliche Unruhe im Blut…“ Rudolf Braune. Schriftsteller und Journalist (1907 – 1932). Biographie und Bibliographie. Düsseldorf 2004.
Standort Potsdamer Straße: Signatur: 6A47702
Ein weiterer Roman aus der Zeit mit besonderem Blick auf die Lage der Frauen ist Vicky Baums Stud. Chem Helene Willfüer von 1926. In der Potsdamer Straße entleihbar: München 1951, Signatur: 5 X 632
Einen guten Überblick über die Gesellschaft der 20er Jahre bietet Volker Kutscher: Der nasse Fisch. Roman. Köln 2008. – Spannender Kriminalroman, der in der Zeit seit 1929 spielt und Grundlage der Fernsehserie „Babylon Berlin“ ist. https://stabikat.de/Record/642092753
Meyer’s Lexikon, 7. Auflage, 12 Bände, 1926-1930 – eine wunderbare Quelle für alles, was sich in jener Zeit ereignet und Beachtung gefunden hat.
Fußnoten
(1) Braune, S. 5
(2) Braune, S. 5
(3) Meyer’s Lexikon, Spalte 374
(4) Hollender, S. 11
(5) Hollender, S. 59
(6) Porträt des 18jährigen Braune, 1925, aus Martin Hollenders Biographie, ursprünglich in: Rheinische Heimatblätter (Koblenz), Jg. 9 (1932), H. 6, S 194
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