Von der Auferstehung einer gefallenen Krone
Ein wenig verträumt wie ein Überbleibsel eines untergegangenen Schlosses liegt sie am Rande des Lesegartens vor einer Rosenhecke vis à vis des Eingangs zum Otto-Braun-Saal: Eine von Witterung gezeichnete, barock anmutende, gut 1 x 1 m große steinerne Krone, die so gar nicht an diesen klassischen Ort der Moderne zu passen scheint. Wie kam es dazu, dass die Generaldirektion im Jahr 2018 entschied, die im von Günter Nagel entworfenen Lesegarten bereits vorhandenen zeitgenössischen Skulpturen durch diese rätselhafte, alte Krone zu ergänzen? Eine recht bewegende Geschichte tut sich auf, für die wir weit über 100 Jahre zurückblicken müssen…
Hof-Architekt Ernst von Ihne kam dem Wunsch seiner Königlichen Hoheit Wilhelm II. nach einem „Palast der Wissenschaft“, der die großen Bibliotheken in London und Washington überflügeln möge, selbstverständlich nach: Seine aus dem Jahr 1903 stammenden Entwürfe für die damalige Königliche Bibliothek Unter den Linden orientierten sich an den prunkvollen Stilformen des Barock und erfuhren mit fortschreitender Bauzeit eine Überarbeitung, die in einer Art Neo-Renaissance mündete.
Die gekrönte Kartusche, im Giebeldreieck des Brunnenhofs, in die der ebenfalls Krone tragende Preußenadler eingebettet ist, fügte sich somit in diesen historisierenden Baustil wunderbar ein, wenngleich sich zur feierlichen Eröffnung des Ihne-Baus im Jahr 1914 freilich schon die Vorboten des funktionalen, modernen Bauhaus-Stils abzeichneten.* Kein Wunder also, dass die Berliner Zeitschrift „Die Schaubühne“ am 2.4.1914 kritisierte: „…der Renaissancetyp mit seinen behäbigen Mauern, seinen Gesimsen und Säulen und der Überfülle seines Schmuckes [ist] ganz ungeeignet für ein Gebäude, das vor allem Licht und Luft braucht,… .“ Eine sehr vorausschauende Bemerkung, wie sich später mit dem Bau des lichtdurchfluteten Lesesaal-Kubus von HG Merz herausstellen sollte, jedoch ohne diesen Willen zum barocken Prunk hätte es unser Kronenrätsel selbstverständlich nicht gegeben…
85 Jahre später – im Zuge der aufwändigen Gründungssanierung des Gebäudes der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin Unter den Linden – wurde in einem der Lichthöfe, etwa 2 m tief in der Erde, ein erstaunlicher Grabungsfund gemacht: Eine über 1 m große Stein-Krone, mit halbem Reichsapfel und fehlendem Kreuz.
Sowohl das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung als auch die Stiftung Denkmalschutz Berlin fanden keine plausible Erklärung für ihre Herkunft: An der Schmuckfassade der Bibliothek fehlte keine Krone, zweifellos auch nicht im Tympanon über dem rückseitigen Eingang in der Dorotheenstraße. Es handelte sich auch nicht etwa um eine Spolie des eingerissenen, nur wenige 100 m entfernten Stadtschlosses. Niemand vermisste diese Krone!
Im Jahr 2005 endlich kam Gerhard Ihlow, ehemaliger Leiter des Bereichs Rekonstruktion der Staatsbibliothek, dem Rätsel auf die Spur. Im Zuge der Erfassung der historischen Bauakten der Staatsbibliothek stieß er auf einen Brief des Regierungs- und Baurats Anton Adams an den Königlichen Geheimen Ober-Hofbaurat Ernst von Ihne aus dem Jahre 1910, in dem Adams ihn darüber informierte, dass das vorhandene Modell der Krone über der Kartusche im Nordgiebel Hoffront Hof I um 15 cm zu groß angefertigt worden sei und so in das Gesims einschneiden würde. Er fragt im weiteren höflich an, ob von Ihne Bedenken gegen eine Verkleinerung habe:
Drei Wochen später, am 6. September 1910, erhielt er endlich Ihnes Antwort: „…Betreffs der Krone über der Giebelkartusche bitte ich die ganze Kartusche mit der Krone um das Übermaß kleiner punktieren zu lassen, so dass das Kreuz der Krone noch durch die Hängeplatte gedeckt wird.“
Gerhard Ihlow veröffentlichte diese interessanten Zeitdokumente zusammen mit weiteren historischen Schriftstücken in der ehemaligen Mitarbeiterzeitschrift „sbbintern“ Ausgabe Juli/August 2005 in seinem Beitrag „Zwei steinerne Kronen für den Portikus im Brunnenhof der Staatsbibliothek zu Berlin“. Er resümierte: „Diese Schriftstücke sind nicht nur Zeugnis engagierten und verantwortungsbewussten Handelns des Regierungs- und Baurates Adams, der dem sicher vielseitig geforderten Ober-Hof-Architekten S.M. des Kaisers und Königs Ernst von Ihne oft die Zeit zur Sicherung des Baufortgangs abringen musste, sondern der Beweis für die Existenz zweier Kronen, für die Kartusche im Tympanon des Brunnenhofs.“
Nach einer Vermessung der im Krieg unzerstört gebliebenen Krone in der Giebelkartusche hoch über dem Brunnenhof-Portal stellte sich laut Ihlow im Jahr 2002 heraus, dass sie wirklich ca. 15 cm kleiner ist als die in der Baugrube versenkte Erstanfertigung. Beide Kronen wurden zudem aus demselben weißen Sandstein mit gelben Einschlüssen aus Rackwitz bei Halle/Saale durch die Hofsteinmetzmeister Gebr. Zeidler angefertigt, auch dies erfuhr Ihlow aus den Bauakten. Die Beweislage zur Provenienz der Krone ist also zweifelsfrei!
Doch diese Beweislage war 1999, als die Fund-Krone zunächst für knapp 20 Jahre im Foyer des Hauses Potsdamer Straße aufgestellt wurde, noch gänzlich unbekannt. So schreibt Ekkehard Schwenk im Tagesspiegel am 15.8.99 dazu: „Die Generaldirektion aber zeigte einen am Kronstein fein geschliffenen Sinn für die zerbrechlichen Zusammenhänge der geeinten Stadt. Mit dieser Aufstellung wollte sie den Zusammenhang beider Häuser verdeutlichen.“ Und weiter: „Hoffentlich wird nie aufgeklärt, woher die Steinkrone stammt. Sie verlöre jenen Zauber, den alles hat, worauf sich jeder seinen eigenen Reim machen kann.“ Sein Wunsch ging leider nicht in Erfüllung, wie wir nun wissen. Noch einmal also sollte die Krone wandern, dieses Mal ihrer ursprünglichen Bestimmung nach wieder hinaus ins Freie an ihren jetzigen Standort. Welch Ironie des Schicksals: Scheinbar einem hunderte von Jahren alten Dornröschenschloss entsprungen, hat die Krone nun direkt vor dem Prototypen der Bibliothek der Moderne ihren Platz gefunden – das ältere Schwesternhaus Unter den Linden zitierend, in Form eines quasi duplizierten Details aus dessen romantischem Brunnenhof.**
Was wohl der Bauarbeiter, der die nicht ganz passgenau angefertigte Krone vor 111 Jahren möglichst unauffällig in der Baugrube verschwinden lassen sollte, eigentlich dabei gedacht haben muss…? Er konnte ja nicht ahnen, dass die Krone unterirdisch zwei Weltkriege überleben sollte. Aber zu wissen, dass sie wieder das Tageslicht erblickt im Lesegarten eines Scharounbaus am Kulturforum, wäre sicher tröstlich für ihn gewesen.
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*(vgl.: Birte Timmermann: Eine Städtereise: Der Fassadenschmuck des Hauses Unter den Linden, in: Bibliotheksmagazin 3/2009, S. 78)
** (vgl.: Birte Timmermann: Der Brunnenhof im Haus Unter den Linden – Eine Hommage, in: Bibliotheksmagazin 1/2006, S. 2)
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