Westhafen adé – scheiden tut weh! … Hallo Linden, die Zeitungen kommen!
Nichts hält bekanntlich länger als ein Provisorium! Aber auch das längste Provisorium geht einmal zu Ende: wer hätte am 22. September 1997 bei der Eröffnung des Lesesaals der Zeitungsabteilung in einem früher als Getreidespeicher und Senatsreserve für Lebensmittel genutztem Speichergebäude im Berliner Westhafen gedacht, dass die nur für eine Dauer von maximal zehn Jahren vorgesehene Interimslösung mehr als zwanzig Jahre bestehen sollte. Denn erst jetzt, im ersten Quartal 2020, wird die Zeitungssammlung wieder aus dem Westhafen aus- und in das nun fertig sanierte Haus Unter den Linden zurückziehen. Seit dem 6. Januar rollen nun täglich die LKWs, um ca. 240.000 Zeitungsbände und 120.000 Mikrorollfilme und weiteres Büro- und Aktenmaterial, insgesamt ca. 12 Kilometer Umzugsgut an die neuen Standorte in Berlin-Mitte und Friedrichshagen zu transportieren. Für Juni 2020 ist dann die Wiederaufnahme des Lesesaalbetriebs in den neuen Räumen im Haus Unter den Linden geplant.
Die Zeitungsabteilung entstand 1993 als nach Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten auch die Vereinigung der beiden Haupthäuser der Staatsbibliothek zu Berlin abgeschlossen war und die bis dahin in Ost und West getrennt aufbewahrten Zeitungsbestände erstmals wieder zusammengeführt werden konnten. Ein wichtiger Grund für die Gründung der Zeitungsabteilung damals war, dass Zeitungen ein für die Bibliothek in mehrfacher Hinsicht schwieriges Material sind: sie sind großformatig und in gebundener Form sehr schwer und unhandlich, sie erscheinen täglich oder mindestens einmal wöchentlich, in diversen Regional- und Lokalausgaben und z.T. mit kleinformatigen Beilagen, was zu einem erhöhten Aufwand für Erwerbung und Katalogisierung und auch zu einem großen Platzbedarf im Magazin führt. Ihr Erhaltungszustand ist auf Grund des säurefraßgeschädigten Papiers und kriegsbedingter Einbandschäden oft sehr schlecht, weshalb sie für die Benutzung gesperrt und nur auf Mikrorollfilm benutzt werden können. Für die Nutzung der Mikrofilme sind im Lesesaal spezielle Rückvergrößerungsgeräte zum Lesen, Kopieren und Scannen erforderlich, die (leider) bei der Benutzung auch eine Geräuschkulisse verursachen, die in jedem Bibliothekslesesaal störend wirkt und daher unerwünscht ist.
Im eigens für die Zeitungen umgebauten Getreidespeicher im Berliner Westhafen waren die Bedingungen jedoch ideal, und die Leser*innen kamen bis zuletzt an den etwas abseits gelegenen Ort, um in Ruhe in den Zeitungen im Print-Original oder auf Mikrorollfilm zu recherchieren. Dabei ist das Ermitteln von Informationen oder die Überprüfung von Quellenangaben aus Zeitungen oft kein leichtes Unterfangen: vieles muss geradezu detektivisch ermittelt werden. Nur auf Grund der Verfügbarkeit der Zeitungen in allen Erscheinungsformen, sei es im Print-Original, auf Mikrorollfilm oder in digitaler Form an einem Ort in Verbindung mit der in der Handbibliothek des Lesesaals verfügbaren Sekundärliteratur zum Zeitungs- und Pressewesen und nicht zuletzt auf Grund des besonders qualifizierten Fachpersonals, konnte in all diesen Jahre so manche harte Nuss geknackt werden, an der zuvor der betreffende Nutzer nach eigenen Angaben schon viele Jahre erfolglos geknabbert hatte.
Im neuen Haus Unter den Linden wird es (zum Glück!) wieder einen eigenen Zeitungslesesaal geben, so dass die Zeitungsnutzer die übrigen Leser im Allgemeinen Lesesaal nicht stören werden – umgekehrt aber die Leser aus dem Allgemeinen Lesesaal (wenn sie es denn wollen) auch die Plätze im Zeitungslesesaal (soweit verfügbar) in Anspruch nehmen dürfen. Nur bei der Nutzung von Originalbeständen wird es in Zukunft wohl eher zu einer Verschlechterung des Services kommen: denn aus Platzmangel können nicht alle Zeitungsbände im Haus Unter den Linden aufbewahrt werden, der weitaus größte Teil muss in einem Speichermagazin in Friedrichshagen untergebracht und von dort bestellt und geliefert werden. Die notwendigen Transporte führen zu längeren Bereitstellungszeiten, die kurzfristige Einsichtnahme in Originalbände (wie dies im Westhafen möglich war) wird es dann nicht mehr geben.
Die Stimmung unter den Mitarbeiter-/ und Leser*innen der Zeitungsabteilung zum Umzug in das Haus Unter den Linden ist daher auch eher zwiespältig: einerseits freuen sich viele die Versorgungswüste des Westhafens endlich verlassen zu können und wieder in der Mitte der Stadt zu arbeiten. Es wird neue Räume, neue Geräte und insgesamt bessere Arbeitsbedingungen geben. Die Zahl der Nutzer*innen (vor allem aus dem Ausland) wird zunehmen. Andererseits wird das Fehlen der Originalbände vor Ort beklagt: die Suche in Zeitungen wird schwieriger, PKW-Parkplätze direkt vor’m Haus wird es nicht mehr geben und insgesamt wird es lauter, unruhiger und trubeliger werden als im ruhigen, abgeschiedenen und beschaulichen Zeitungsspeicher des Berliner Westhafens.
Wie auch immer. Das Zeitungsschiff wird fleissig beladen und zum Ende des Frühjahrs den Hafen endgültig verlassen, um vor’m Haus Unter den Linden vor Anker zu gehen. Wie gut und wie schnell sich Schiff, Mannschaft und Passagiere dort einleben werden, wird man erst in ein paar Jahren rückblickend bewerten können.
Christoph Albers
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