Digitale Lektüretipps 53: Der Neue Pauly online – Enzyklopädie der Antike
Ein Beitrag aus unserer Reihe Sie fehlen uns – wir emp-fehlen Ihnen: Digitale Lektüretipps aus den Fachreferaten der SBB
Der neue Pauly mit dem Untertitel Enzyklopädie der Antike lässt, wie der Name schon sagt, einen Vorgängerwerk erwarten. In der Tat konzipierte bereits in den 1830er Jahren der württembergische Gymnasialprofessor August Friedrich Pauly (1796-1845) die Real-Encyclopädie der classischen Alterthumswissenschaft in alphabetischer Ordnung. In erster Linie sollte sich dieses Werk an Lehrer und Schüler wenden. Er gewann 17 Mitstreiter und den Stuttgarter Verlag J.B. Metzler für seine Vorhaben. Der erste Band erschein 1837, der sechste und letzte 1852 – also einige Jahre nach Paulys Tod.
Der Aufschwung der Wissenschaften in Preußen und dem jungen Deutschen Reich stellte dann ganz andere Anforderungen an eine altertumswissenschaftliche Fachenzyklopädie, die wiederum der Verlag Metzler gerne auf sich nehmen wollte. Mit dem Universitätsprofessor Georg Wissowa (1859-1931) fand sich ein geeigneter Organisator, der geeignete und hochkompetente Gelehrte akquirieren konnte. Es entstand nun das umfangreichste alphabetische Nachschlagewerk eines Wissenschaftsfachs überhaupt. Als der erste Band 1894 erschien, dachte der Herausgeber noch an einen Erscheinungsverlauf von rund 10 Jahren. Welch grandioser Irrtum! Tatsächlich sollten es – erschwert durch zwei Weltkriege und den Aderlass an Wissenschaftlern ab 1933 – mit dem letzten Registerband aus dem Jahr 1997 über 100 werden. Der letzte inhaltliche Band von insgesamt über 80 erschien 1978.
Das Mammutwerk wird als Pauly-Wissowa zitiert oder einfach nur die RE. Der ausführliche Titel lautet Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Die Artikel wurden im Laufe der Zeit immer länger, einige erreichten gar einen monographischen Umfang. Aber von Anfang an wurden die – beim Erstellungszeitpunkt bekannten – Quellenbelege zu einem Lexikonartikel vollständig erfasst. Vergessenes wurde in Supplementbänden nachgetragen, stark Veraltetes mitunter neu bearbeitet. Als sich das Publikationsende immer mehr dem St. Nimmerleinstag näherte, wurde 1914 mit dem Beginn des Buchstabens R eine zweite Reihe aufgemacht.
Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Großunternehmen in Deutschland erhielt die RE nie eine institutionelle Unterstützung, z.B. durch eine Akademie der Wissenschaften. Sie blieb stets unternehmerisches Risiko. Auch wenn die Realenzyklopädie in vielem veraltet ist, so ist sie als Nachschlagewerk bis heute unverzichtbar. So wartete der klassische Philologe Bernhard Kytzler (geb. 1929) mit folgender Eloge auf: „Sie bietet ein Zeugnis deutscher Gelehrsamkeit, das als ein vielleicht unwiederholbares Denkmal des Zusammenwirkens von Akribie und Ausdauer, Scharfsinn und Wissensfülle, Zähigkeit und Zielstrebigkeit auch von späteren Generationen zu bewundern sein wird.“ (Die Zeit Nr. 23, 28.05.1976)
Benutzungsfreundlich ist das Werk allerdings nicht. Die Gestaltung vor allem der längeren Artikel ist ziemlich unübersichtlich. Man muss schon wissen, dass Caesar unter Iulius zu suchen ist. Die Kenntnis des Griechischen und Lateinischen wird vorausgesetzt. Alle diese Erschwernisse wie die partielle Veraltung des Gesamtwerks ließen den vorletzten Herausgeber Konrat Ziegler (1884-1974) zu der Überzeugung kommen, eine aktualisierte Kurzausgabe der RE aufzubereiten. Dafür gewann er zahlreiche Fachleute. Die Kurzausgabe erschien bei gleichbleibend sehr hohem Niveau zwischen 1964 und 1975 in fünf Bänden unter dem Titel Der kleine Pauly. Eine Taschenbuchausgabe machte es sogar einem Studenten mit beschränktem Platz und schmalen Budget möglich, das Werk zu erstehen.
Ab 1996 erstand, erneut verlegerisch von J.B. Metzler betreut, Der Neue Pauly, Enzyklopädie der Antike. In diesem von versierten Spezialisten verfassten Fachlexikon wurden gegenüber den Vorgängern nicht nur die geographischen (gesamter Mittelmeerraum) und chronologischen (ca. 1500 v.d.Z. – ca. 600/800) Grenzen ausgeweitet, sondern mehrere Bände wurden eigens der Rezeption der Antike weit über deren Ende hinaus gewidmet. Zitate sind übersetzt, auf Überlänge einzelner Artikel wird verzichtet, selbst bei den sehr hilfreichen Übersichtsdarstellungen. Im Zentrum der Enzyklopädie steht die Kultur der Griechen und Römer mit all ihren lebensweltlichen Bezügen wie Sprache, Literatur, Recht, Geschichte, Kunst, Philosophie, Medizin usw. Entstanden sind in der erstaunlich kurzen Zeit bis 2003 insgesamt 19 Lexikonbände. Aber auch dieses Werk kommt ohne Supplementbände nicht aus. Es sind jedoch nicht wie bei der RE nachgetragene oder überarbeitete Lexikonartikel, sondern eigenständige Monographien, die eine sinnvolle Ergänzung darstellen, z.B. Herrscherchronologien der alten Welt, ein historischer Atlas der antiken Welt oder ein Handbuch zur Frühgeschichte des Mittelmeerraums. Diese Reihe ist noch nicht abgeschlossen. Angekündigt ist als 14. Band ein historisch-archäologisches Lexikon zu den Germanen.
Obwohl die ersten Bände von der Kritik nicht gerade mit Lob überschüttet wurden, steht das Werk international konkurrenzlos da. Dies bewog den niederländischen Verlag Brill, eine englische Übersetzung herauszugeben – zugleich ein symptomatischer Beleg für den Abstieg des Deutschen als Wissenschaftssprache. Vor vier Jahrzehnten wurde noch kolportiert, die amerikanischen Althistoriker müssten Deutsch lernen, um die RE benutzen zu können.
Die zweite große Leistung des Verlages Brill besteht darin, dass er unter dem Titel Brill’s New Pauly eine digitale Ausgabe des Werks, und zwar in englischer wie in deutscher Sprache zur Verfügung stellt. Gut lesbar ist der elektronische Text durch große Abstände zwischen den einzelnen Absätzen. Die serifenbetonte Schrifttype empfindet das Auge als sehr angenehm. Die eingebauten Verlinkungen – auch von den Supplementbänden zum Grundwerk – ermöglichen einen schnellen Zugriff auf Hintergrundinformationen. Als Leserin oder Leser der Staatsbibliothek besitzen Sie zu dieser elektronischen Ressource einen Zugang auch im Fernzugriff:
Supplementbände (nur englisch)
Nicht lizenziert hat die Staatsbibliothek die deutsche Version der Supplementbände. Natürlich finden Sie alle Bände im Handbestand der beiden Lesesäle – wenn sie wieder zugänglich sind (Unter den Linden: HA 5 Ga 7160; Potsdamer Straße: HB 5 GA 7270).
Obwohl sicher lohnenswert, fand sich erstaunlicherweise bislang noch niemand, der das Grundwerk, die RE, hätte digitalisieren wollen. Immerhin werden die gemeinfreien Artikel seit 2012 in stetig wachsender Zahl über Wikisource angeboten.
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[…] Die gemeinfreien Artikel von Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, kurz Pauly-Wissowa oder RE werden seit 2012 in stetig wachsender Zahl über Wikisource angeboten (via Blog Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz): […]
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