Die Displaced Persons-Sammlung in der Staatsbibliothek zu Berlin – vom Zerfall bedroht
Es sind größtenteils unscheinbare Bücher, nur wenige verziert oder bebildert, in Jiddisch oder Hebräisch. Gedruckt auf billigem Papier und trotzdem wertvoll, ja, kostbar – die ersten jüdischen Zeugnisse in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg von den Überlebenden der Shoah. Diese Werke aus den Displaced Persons (DP)- Lagern wurden intensiv genutzt und so ist der Erhaltungszustand zumeist schlecht.
Seit dem ersten Ankauf von etwa 200 Büchern und Zeitungen im Jahr 2009 erwirbt die Staatsbibliothek zu Berlin systematisch weitere Werke der Literatur aus den DP-Lagern mit dem Ziel der größtmöglichen Vollständigkeit. Zurzeit können Forschern und Wissenschaftlerinnen etwa 430 Bücher und Zeitungen zur Verfügung gestellt werden. Allerdings muss der größte Teil der Sammlung dringend restauriert werden.
Die detaillierte Kostenschätzung beläuft sich auf insgesamt 80.000 €. Es geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Bewahrung der ersten jüdischen Schriftkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Für die Restaurierung und damit den Erhalt dieser einzigartigen Sammlung für die Zukunft brauchen wir Ihre Hilfe.
Jede Spende hilft beim Erhalt dieser einzigartigen Sammlung:
Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin e. V.
IBAN: DE 69 1007 0024 0439 3922 04
Verwendungszweck: DP-Literatur + Name + Adresse für die Spendenbescheinigung
Ausführlichere Informationen finden Sie hier in unserer Broschüre als download oder
Sie bestellen sie bei freunde@sbb.spk-berlin.de
Wir werden hier in unregelmäßigen Abständen über den Fortgang des Projekts berichten, einzelne Werke vorstellen und ausgewählte Bücher als Buchpatenschaft anbieten. Mehr zu den Freunden der Staatsbibliothek zu Berlin finden Sie hier.
Zur Geschichte der Displaced Persons
Als im Mai 1945 der Krieg zu Ende ging, sahen sich die Alliierten mit rund sieben Millionen Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen, KZ-Überlebenden und Menschen aus Verstecken und dem Untergrund konfrontiert. Sie alle wurden unter dem Begriff Displaced Persons (DPs) zusammengefasst. Die Gruppe der jüdischen Displaced Persons war zunächst eine kleine, aber durch die Verfolgung besonders gezeichnete Minderheit.
Während die meisten DPs nach und nach in ihre Heimatländer zurückkehrten, wuchs die Zahl der jüdischen DPs weiter an. Vorwiegend polnische Jüdinnen und Juden – Überlebende der Konzentrationslager, Partisanen und Personen, die in Verstecken der Vernichtung entkommen waren – flohen vornehmlich in die amerikanische Besatzungszone. Sie sahen wie andere jüdische Überlebende nach der Ermordung ihrer Familien und Freunde, dem Verlust ihrer wirtschaftlichen Existenz und der Zerstörung der Gemeinden keine Zukunft mehr in ihrer alten Heimat. Der erneut wachsende Antisemitismus, der im Juli 1946 im Pogrom von Kielce kulminierte, verstärkte die Fluchtbewegung.
Im Ergebnis wurden die westlichen Besatzungszonen für rund 250.000 jüdische Flüchtlinge zur Transitstation. Keiner der Flüchtlinge plante einen längeren Aufenthalt in Deutschland. Für sie alle stellte diese Zeit als DP ein Übergangsstadium dar – sie fühlten sich im „Wartesaal“, wie es Zalman Grinberg, der erste Vorsitzende des Zentral8komitees der befreiten Juden in der amerikanischen Zone, ausdrückte.
Mit den Füßen in Deutschland, aber mit dem Kopf, den Wünschen bereits in einer Zukunft in den USA, Kanada oder Palästina, lebten die jüdischen Überlebenden in eilig errichteten Unterkünften. In der Ungewissheit – Einreisebeschränkungen für zahlreiche Länder und die restriktive Einwanderungspolitik Großbritanniens für Palästina – hieß es, einen Alltag aufzubauen mit Kindergärten, Schulen und Ausbildungsstätten ebenso wie mit Sportvereinen, Musik- und Theatergruppen. Auch Druckereien wurden eingerichtet. Ab Herbst 1945 wuchs die Produktion von Büchern und Zeitungen an. „Mir zenen do!“ – ein Motto für die Zukunft.
Zur Sammlung in der Staatsbibliothek zu Berlin
Wie hoch die Anzahl der Drucke, die zur DP-Literatur gezählt werden, überhaupt ist, kann nicht präzise beziffert werden. Es fehlt an einer zuverlässigen Gesamtbibliographie und immer wieder tauchen Publikationen auf, die aufgrund des Erscheinungsortes und anderer Hinweise eindeutig zur DP-Literatur gezählt werden müssen, bislang jedoch unbekannt waren.
Fest steht jedoch, dass die Staatsbibliothek zu Berlin mit heute etwa 430 Bänden und deren überregionaler Ausrichtung neben der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover und der Bayerischen Staatsbibliothek in München eine der bedeutendsten Sammlungen in Europa besitzt.
Die Schriften lassen sich inhaltlich in vier Kategorien einteilen:
① Politische bzw. zeitgeschichtliche Werke: Mitteilungsblätter, Zeitungen und Zeitschriften zählen hierzu ebenso wie die ersten Dokumentationen über die Shoa und Memorbücher, Werke des Totengedenkens ausgelöschter jüdischer Gemeinden.
→Bestand in der Staatsbibliothek: ca. 100.
Im September 1945 wurde auf dem ersten Kongress in Bergen-Belsen das Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Besatzungszone gegründet. Zugegen waren neben 210 Delegierten, die mehr als 40.000 jüdische DPs vertraten, Korrespondenten aus aller Welt. Zu sehen ist hier das Titelblatt des Konferenzprotokolls.
② Literarische Werke: Jiddische und hebräische „Klassiker“ und Werke der hebräischen Moderne von Autoren wie z. B. Sholem Aleykhem, Mendele Moykher-Sforim wurden nachgedruckt.
→ Bestand in der Staatsbibliothek: ca. 50.
Zur Abbildung: Malkah Kelerikh wurde 1897 in Rovno (heute: Rivne), Volhynia – einer Gegend im Nordwesten der Ukraine – geboren. Sie veröffentlichte erste Erzählungen vor dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Buch Tsurik tsum leben ist eine frühe Sammlung von Erzählungen einer Autorin in den Displaced Persons-Lagern. Sie thematisiert das Leben im Versteck und im Ghetto, schreibt über die Entmenschlichung auf den Todesmärschen und hat einen satirischen Blick auf das Leben im DP-Lager.
③ Nachschlagewerke und Lehrbücher im weitesten Sinne: Wörterbücher, Lehrbücher für Mathematik, Medizin, Hebräisch und Sport, Ratgeber für Rechtsfragen und zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina gehören in diese Kategorie.
→ Bestand in der Staatsbibliothek: ca. 20.
④ Religiöse Werke
→ Bestand in der Staatsbibliothek: ca. 255.
Bibeln, Talmudim und Gebetbücher waren zerstört und der neue Bedarf hoch, um ein religiöses, jüdisches Leben wiederaufzunehmen. Allerdings handelte es sich bei den Displaced Persons um keine einheitliche Gruppe. Sie unterschieden sich stark durch Herkunft – geografisch wie ökonomisch, durch ihre Muttersprache und ihr Schicksal während des Zweiten Weltkriegs. Das religiöse Spektrum reichte von säkular bis orthodox. Religiöse Traditionen und Rituale bildeten wichtige Grundsteine für den Aufbau von Alltagsstrukturen.
Ihr Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!