ARMA (The Art of Reading in the Middle Ages) – Digitale Perspektiven mittelalterlicher Handschriften und Objekte
Ein Gastbeitrag von Dr. Markus Greulich
Die Abteilung Handschriften und Historische Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin hat sich am internationalen Verbundprojekt ARMA (The Art of Reading in the Middle Ages / Die Kunst des Lesens im Mittelalter), das von der EU gefördert wurde und dessen Laufzeit vom 1. Oktober 2020 bis zum 31. August 2022 reichte, beteiligt. ARMA widmete sich der Lesekultur im Mittelalter aus transnationaler Perspektive und ging insbesondere der Frage nach, wie sich die lateinbasierte Lesekultur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit entwickelte. Dabei gerieten die Materialität von Objekten ebenso ins Blickfeld, wie die Entwicklung der lateinischen Schrift, die Mobilität von mittelalterlichen Büchern oder auch die von Schreiber:innen und Leser:innen am Hof, in der Stadt und im Kloster.
Das Projekt entstand mit Partnerinstitutionen aus Brugge (Openbare Bibliotheek), Leiden (Universitaire Bibliotheken Leiden), Limerick (Hunt Museum), Ljubljana (Narodna in univerzitetna knjižnica), Paris (Bibliothèque nationale de France), Prag (Národní knihovna České republiky) und der Europeana Network Association. Aufgrund von COVID-19 wurde aus dem Projekt zu digitalen Objekten des Kulturerbes (Cultural Heritage Objects, kurz: CHOs) zugleich ein Projekt, das erfolgreich neue digitale Formate der internationalen Zusammenarbeit erprobte.
Ein zentrales Anliegen des Projekts bestand in der Nutzung und Vernetzung unterschiedlicher Institutionen, digitaler Formate und Angebote. In den letzten Jahren haben Bibliotheken, Museen und weitere Kulturinstitutionen ihre Bestände zunehmend Digitalisierungsprozessen unterzogen. Damit arbeiten sie auch daran, das kulturelle Erbe und Wissen der Menschheit digital zu erfassen, zu speichern und für Wissenschaftler:innen verfügbar zu machen. Gleichzeitig ermöglichen über Open Access erreichbare Digitalisate aber auch, Kunst- und Kulturgüter einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und historische Prozesse (wie etwa die Entwicklung der lateinischen Schrift) durch ihre Objekte erfahrbar zu machen – und dies alles unabhängig vom Standort der Nutzer:innen.
Gehört die Digitalisierung von CHOs inzwischen beinahe selbstverständlich zu Arbeitsprozessen in besitzenden Institutionen, so stellen sich gleichzeitig neue Herausforderungen: Welche Möglichkeiten der Zusammenführung von CHOs auf internationalen Plattformen gibt es? Welche Standards für die Qualität der Digitalisate und die Qualität der Metadaten werden Nutzer:innen-Interessen ebenso gerecht wie wissenschaftlicher Forschung? Wie können Schnittstellen zwischen den besitzenden Institutionen und einer interessierten Öffentlichkeit oder auch zum akademischen Umfeld aufgebaut und verbessert – vor allem aber gesichert werden?
Die am ARMA-Projekt beteiligten Institutionen haben sich gemeinsam eines Teils dieser Fragen angenommen und in unterschiedlichen Formaten bearbeitet. So wurden im Laufe des Projekts von den Projektpartner:innen mehr als 34.000 digitalisierte mittelalterliche Handschriften, Inkunabeln, frühe Drucke und weitere mittelalterliche und frühneuzeitliche Objekte in die Online-Plattform Europeana.eu eingespeist, Europas größte virtuelle Bibliothek für Bild,- Ton-, Video- und Text-Dateien. Sie versammelt das reiche europäische Kulturerbe von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart und macht es auf ihrer digitalen Plattform einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Die Zusammenführung an diesem Ort ermöglicht es beispielsweise Objekte nebeneinander zu betrachten, die in ganz unterschiedlichen Sammlungen in Europa beheimatet sind – doch die Such- und Anwendungsoptionen sind vielfältig.
Die digitalisierten Objekte des ARMA-Projekts sind größtenteils in hochauflösender Qualität erstellt worden. Sie verwenden mehrheitlich IIIF (International Image Interoperability Framework). Dadurch ist nicht nur eine sehr hohe Bildqualität gesichert, die auch die genaue Betrachtung von Details erlaubt, sondern auch eine hohe Interoperabilität, die beispielsweise die Einbindung in unterschiedliche digitale Umgebungen sowie die Wiedergabe und Bearbeitung mit unterschiedlichen Viewern ermöglicht.
Die Zusammenarbeit an konkreten Fragestellungen, etwa zu Nutzungsoptionen digitaler CHOs, führten zu einem wichtigen Austausch innerhalb des Teams und dazu, die Möglichkeiten von IIIF kollaborativ zu erkunden. Aus den Anwendungserfahrungen und den Diskussionen zu IIIF haben die Projektpartner:innen Empfehlungen für die Anwendung und Implementierung von IIIF formuliert und auf der Projekt-Website veröffentlicht.
Ein zentraler Aspekt des Projekts – und eine grundsätzlich wichtige Aufgabenstellung – ist der Bereich der Wissenskommunikation. Alle Projektpartner:innen haben in Blog-Beiträgen, Online-Galerien und insbesondere einer gemeinschaftlichen Online-Ausstellung die Kunst des Lesens im Mittelalter aus unterschiedlichen Perspektiven näher betrachtet und gut zugängliche Beiträge zu verschiedenen Aspekten mittelalterlichen Lesens erstellt.
Die treibende Idee dahinter ist, einer breiten interessierten Öffentlichkeit einen leichten Zugang zu den wertvollen Beständen unterschiedlicher Institutionen zu ermöglichen. Darüber hinaus geht es insbesondere durch die Erstellung von Blogs und der Ausstellung darum, die Objekte in weitere Formate einzubinden, sie näher zu erläutern und sie digital in Beziehung zueinander zu setzen. Damit soll die wichtige Verknüpfung von Öffentlichkeit und besitzenden Kulturinstitutionen gestärkt werden.
Zur Dissemination der digitalen Veröffentlichungen wurden unterschiedliche digitale Kommunikationswege genutzt. So wurden die Veröffentlichungen von Blogs, Videos und Unterrichtsmaterialien durch weitere digitale Kommunikationsmittel – etwa Twitter und Instagram – begleitet, um die Reichweite des Projekts zu erhöhen.
Neben den Angeboten für eine breite interessierte Öffentlichkeit lag ein Teilprojekt auf der Entwicklung unterschiedlicher didaktischer Formate, für das die Staatsbibliothek zu Berlin gemeinsam mit dem Hunt Museum (Limerick) die Leitung übernahm. Für die Primar- und Sekundarstufe hat Hannah Bloom Teskey (Hunt Museum, Limerick) u. a. Lernmaterialien zu den Themen ‚Kalligrafie‘, dem ‚Lesen und Vorlesen‘ im Mittelalter und der ‚Tintenherstellung‘ erarbeitet, wobei sie unterschiedliche Medien wie Video, Text und Online-Games einsetzt und so eine attraktive Einbindung in unterschiedliche Unterrichtsszenarien ermöglicht. Paloma Pucci (Bibliothèque nationale de France) hat ebenfalls für die Grundschule umfangreiches Material zum Thema ‚Lesen mittelalterlicher Münzen‘ erarbeitet, das Grundschüler:innen auf spielerische Weise mit diesem Themengebiet bekannt macht.
Die Unterrichts- und Lehrmaterialien für den postsekundären Bildungsbereich wurden von der Bibliothèque nationale de France, der Universitätsbibliothek Leiden und der Staatsbibliothek zu Berlin entwickelt. André Bouwman und Erik-Jan Dros von der Universitätsbibliothek Leiden haben eine Video-Serie zum Thema ‚Exploring the Medieval Manuscript Book‘ zusammen mit Irene O’Daly (Universität Leiden) erarbeitet, die zugleich als Sprecherin in den Videos wirkt. Markus Greulich hat für die Staatsbibliothek mehrere Unterrichtseinheiten für den akademischen Unterricht entwickelt, die eine mittelalterliche Handschrift als Ausgangspunkt nehmen, um beispielsweise der Frage nach der Vermittlung antiker und spätantiker Literatur ins und im Mittelalter nachzugehen. Im Auftrag der Bibliothèque nationale de France haben Isabelle Breuil und Paloma Pucci Stundenentwürfe und Materialien zur Herstellung mittelalterlicher Handschriften und Inkunabeln erstellt. Alle Materialien und Aktivitäten des ARMA-Projekts wurden auf der ARMA-Website veröffentlicht und über die Social-Media-Kanäle der Projektpartner:innen sowie auf Europeana Pro präsentiert. Programmatisch wurden zwei Sessions der Abschlusstagung des ARMA-Projekts für die interessierte Öffentlichkeit geöffnet und dort Fragen der Nutzung, Vermittlung und Integration digitaler CHOs diskutiert.
Wie wichtig den Projektpartner:innen eine Weiterführung des Austauschs mit Bildungseinrichtungen ist, zeigt sich darin, dass aus dem ARMA-Projekt eine Arbeitsgruppe von Lehrenden und Kurator:innen hervorgegangen ist, die die Kommunikation über eine noch stärkere Verknüpfung von Museen, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen fortsetzen wird. Zudem sind alle Ergebnisse des Projekts – beginnend bei den Blogbeiträgen, über interaktive Spiele bis hin zu finalisierten Dokumenten (etwa zu IIIF) – auf der ARMA-Website zu finden:
Weiterführende Links:
Die Website mit weiterführenden Informationen, Blogs, Videos und Unterrichtsmaterialien: https://www.medieval-reads.eu/home
Die Online-Ausstellung zur ‚Kunst des Lesens im Mittelalter‘ auf Europeana: https://www.europeana.eu/en/exhibitions/the-art-of-reading-in-the-middle-ages
Die digitalen Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin: https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/
Dr. Markus Greulich ist Literaturwissenschaftler und Mediävist. Er wurde 2012 mit einer erzähl- und diskurstheoretischen Arbeit an der Universität Wien promoviert. Von 2012–2018 lehrte und forschte er an der Universität Paderborn. Hier initiierte er ein interdisziplinäres Forschungs- und Lehrprojekt im Bereich der Digital Humanities und konzipierte mehrere Tagungen und Workshops. Derzeit forscht er zu kultur- und literaturwissenschaftlichen Dimensionen volkssprachlicher Sammelhandschriften sowie zu Fragen der Intertextualität. Er unterrichtete mittelalterliche Literatur und Kultur an Universitäten in der Tschechischen Republik, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Seit 2021 ist er an der Universität Leipzig tätig. Von 12/2020 bis 08/2022 war Dr. Markus Greulich Projektkoordinator der Abteilung Handschriften und Historische Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin im internationalen und interdisziplinären Projekt ‚The Art of Reading in the Middle Ages‘ (ARMA).
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