Digitalisierung im Zeichen der CARE-Grundsätze

Die Digitalisierung von historischen Quellen in Kulturerbeeinrichtungen fällt in eine Zeit, in der Bibliotheken und Museen zunehmend über ihre koloniale Vergangenheit reflektieren. Die Überschneidung dieser Bereiche wirft wichtige Fragen zu den historischen und ethischen Dimensionen der Digitalisierung von historischen Quellen auf. Während internationale Gremien Richtlinien zur Umsetzung von Prinzipien und Standards für die Digitalisierung entwickeln, wird dieses Thema innerhalb der digitalen Geisteswissenschaften aufgegriffen und Praktiken in der Digitalisierung von Quellen aus kolonialen Kontexten kritisch diskutiert.

Die Ordnung von Wissen in europäischen Kulturerbeeinrichtungen hat eine lange Geschichte. Moderne Systeme und Methoden zur Organisation von Sammlungen und Objekten existierten bereits lange vor dem Beginn von Digitalisierungsprojekten. So begannen im 18. und 19. Jahrhundert Museen, wissenschaftliche Gesellschaften und entstehende akademische Disziplinen damit, Wissen und Objekte aus der außereuropäischen Welt durch neue Taxonomien und Klassifikationen zu ordnen. Auf diese Weise trugen sie dazu bei, Unbekanntes oder was als Fremd deklariert wurde zu Objekten wissenschaftlicher Forschung zu definieren, wobei Regionen und Menschengruppen oft exotisiert und rassifiziert wurden, um koloniale Regime der Ausbeutung und Unterdrückung zu rechtfertigen.

Die digitale Neuordnung unserer Zeit ähnelt vielleicht nicht in jeder Hinsicht ihrem Pendant aus dem 19. Jahrhundert. Es gibt jedoch historische Anklänge, die eine kritische Reflexion erfordern. Die Digitalisierung historischer Sammlungen schafft neue Formen von Daten und damit auch neue Wege, Daten zu beschreiben. In diesem Zusammenhang haben die Research Data Alliance und die Global Indigenous Data Alliance die FAIR– (2016) und CARE-Prinzipien (2019) veröffentlicht, um einen Zugang zu und ethisch verantwortungsvollen Umgang mit Daten zu gewährleisten. (Während FAIR-Daten auffindbar, zugänglich, interoperabel und wiederverwendbar sein müssen, umfassen CARE-Daten kollektiven Nutzen, Kontrollbefugnis, Verantwortung und Ethik als Kriterien). Das Projekt IN_CONTEXT: Colonial Histories and Digital Collections, das sich zum Ziel gesetzt hat, historisches Material zu digitalisieren und ein Konzept für eine virtuelle Forschungsumgebung zu entwickeln, sieht sich immer wieder mit grundlegenden Fragen konfrontiert, wenn es darum geht, physische Quellen in digitale Formate umzuwandeln: Wie gehen wir mit historischen Klassifikationsschemata und der Übernahme aktueller Bezeichnungen um? Wie verhandeln wir das Spannungsfeld zwischen den Anforderungen von Förderorganisationen, institutionellen Standards und internationalen Richtlinien, die entwickelt wurden, um die FAIR und CARE-Prinzipien umzusetzen? In welcher Form kann exotisierendes und rassistisches Quellenmaterial zugänglich gemacht werden? Sind redaktionelle Eingriffe in der Präsentationsschicht ausreichend? Wie können solche Praktiken auf die Gestaltung von Schnittstellen, also programmatischen Zugängen zu Daten, ausgeweitet werden? Und wer sollte bei diesen Entscheidungen mit am Tisch sitzen?

Diese Fragen waren Gegenstand einer Podiumsdiskussion zum Thema „Digitalisierung kulturellen Erbes und postkoloniale Perspektiven“ auf der 9. Jahrestagung des Verbands für die Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd) an der Universität Trier. John Woitkowitz von IN_CONTEXT und Clemens Neudecker, Co-Leiter des Projekts Mensch.Maschine.Kultur, diskutierten gemeinsam mit Kolleg:innen die ethischen Dimensionen von Digitalisierungsprojekten und die Verpflichtung von Institutionen, ihre Rolle in der Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. In einer breiten Debatte wies das Panel auf die Chancen der Digitalisierung von Sammlungen und der Anwendung von Methoden aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz auf digitalisierte Quellen hin. Der globale Zugang zu historischen Quellen, die sich auf die Kolonialgeschichte beziehen, ist für die Forschung wertvoll, aber insbesondere für jene Gemeinschaften, wo Quellen entwendet wurden und welche weiterhin mit dem Erbe kolonialer Gewalt und Ausbeutung konfrontiert sind. Ebenso können K.I.-gestützte Tools helfen einseitige Darstellungen und sensible Inhalten zu erkennen und damit neue Möglichkeiten für Forschungsmethoden und der Verwaltung von Daten schaffen.

Gleichzeitig existieren erhebliche Herausforderungen in der Umsetzung der CARE-Grundsätze im Umgang mit Quellen aus kolonialen Kontexten. Die Co-Kuratierung von Daten und die gemeinsame Entwicklung von Informationsinfrastrukturen, wie z. B. webbasierte Repositorien und Forschungsumgebungen, sind von entscheidender Bedeutung, um einseitige Darstellungen zu minimieren und die Deutungshoheit innerhalb von Herkunftsgesellschaften zu stärken. Eine solche Arbeit kann jedoch nicht kurzfristig sein. Der Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen, erfordert langfristige Verpflichtungen, ein Schlüsselaspekt, der oft durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Finanzierungsfristen und die Ungewissheit über die Nachhaltigkeit der Projektarbeit erschwert wird. Ebenso sind Förderbedingungen, die einen offenen Zugang zu digitalisiertem Material erfordern, nicht immer mit der von Herkunftsgesellschaften vorgesehenen Nutzung vereinbar. Unterschiedliche Ausprägungen digitaler Infrastrukturen erschweren zudem den ortsunabhängigen Zugang zu digitalisiertem Material, ein Aspekt der in die Entwicklung von Plattformen und Digitalisierungsprozessen einbezogen werden muss.

Zugänglichkeit und kollektiver Nutzen, zwei wichtige FAIR- und CARE-Grundsätze, berühren auch Aspekte von Sprache. Die DHd-AG Multilingual beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Mehrsprachigkeit, um Aufmerksamkeit zu schaffen und als eine Plattform für kritische Perspektiven in diesem Bereich zu agieren. Damit Nutzende aus verschiedensten Sprachgemeinschaften Bestände und Ressourcen, die durch Digitalisierungsprojekte zur Verfügung gestellt werden, lesen und nutzen können, muss Mehrsprachigkeit als Standard in den Kulturerbeeinrichtungen ausgebaut werden. Darüber hinaus muss Mehrsprachigkeit in die Entwicklungsprozesse der Datenmodellierung, die Entwicklung von Benutzeroberflächen und das Schnittstellen-Design einbezogen werden, wenn digitale Quellensammlungen bestehende Sprachgrenzen überwinden soll.

In vielerlei Hinsicht bedeutet Digitalisierung in einer globalen Informationsgemeinschaft, dass Wissen und Sammlungen wieder mit ihrer Geschichte und ihrem Erbe zusammengeführt werden. Dieser digitale Moment ist jedoch nicht ohne Widersprüche. Die Digitalisierung von Quellen aus kolonialen Kontexten kann nicht ohne die Mitarbeit derjenigen erfolgen, die von dieser Geschichte betroffen sind. Stattdessen muss sie von Kollaboration in der Kuratierung und Entwicklung getragen und mit den entsprechenden Ressourcen für eine nachhaltige Zusammenarbeit ausgestattet sein. Während sich Debatten zur Digitalisierung von Quellen aus kolonialen Kontexten weiterentwickeln und neue Standards entstehen, wird es (unbefriedigende) Zwischenlösungen geben. Die digitale Neugestaltung der Wissensordnungen unser Zeit bietet trotzdem reichlich Möglichkeiten, ein gerechteres Modell der Daten- und Informationsverantwortung zu entwickeln.

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