Ein Blick hinter die Kulissen: Provenienzforschung an der Staatsbibliothek
Unser virtueller Beitrag zum Tag der Provenienzforschung am 8. April 2020.
Seit der Verabschiedung der Gemeinsamen Erklärung im Dezember 1999 sind öffentliche Kultureinrichtungen und damit auch Bibliotheken verpflichtet, in ihren Beständen nach NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern, kurz NS-Raubgut zu suchen. Über 40 Projekte zur Prüfung von Bibliotheksbeständen wurden seitdem in Deutschland zunächst durch die Arbeitsstelle für Provenienzforschung und seit 2015 das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste gefördert. Auch die Staatsbibliothek profitierte von dieser Förderung und konnte so bereits zwei große Forschungsprojekte erfolgreich abschließen. Noch 2020 sollen die Ergebnisse aus einem dritten Projekt, das sich mit der Weiterverteilung von geraubten Büchern in der Zeit nach 1945 beschäftigt, publiziert werden.
Ein Ende der Arbeit ist aber noch lange nicht abzusehen. Umso wichtiger ist es, dass die Staatsbibliothek zum 1. April 2020 dank der Unterstützung durch die Beauftragte für Kultur und Medien eine zusätzliche und unbefristete Stelle in der Abteilung Historische Drucke mit der Provenienzforscherin Regine Dehnel besetzen konnte. Damit besteht das von Michaela Scheibe geleitete Team der Provenienzforscher*innen aus sieben Personen, die mit unterschiedlichen Zeitanteilen mitarbeiten. Das Team setzt sich aus einem Fachangestellten für Medien- und Informationswissenschaften, vier Bibliothekarinnen und zwei Wissenschaftlerinnen zusammen, so dass auch die zeitnahe Erfassung und Publikation der vom gesamten Team ermittelten Ergebnisse sichergestellt ist. Für die Vernetzung über die Staatsbibliothek hinaus soll künftig ein stiftungsweites, maßgeblich von Staatsbibliothek und Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin getragenes Zentrum für Provenienzforschung sorgen. Für die nächsten zwei Jahre unterstützt die Kultur- und Medienmanagerin Doris Antonides-Heidelmeyer die Aufbauphase des Zentrums in koordinierender Funktion.
Warum trotz aller Anstrengungen vieles so unerträglich lange dauert – dies kann ein Blick hinter die Kulissen und auf die alltäglichen Probleme der Provenienzforscher*innen an der Staatsbibliothek erklären.
Das Mengenproblem
Alle Bücher, die vor 1945 gedruckt wurden, und alle anderen Sammlungsgegenstände wie Handschriften, Musikalien, Karten, Briefe und Graphikblätter – soweit sie vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden sind – können grundsätzlich NS-Raubgut sein. Dieser Verdacht gilt zunächst für alle Objekte, deren Herkunft und Erwerbungsumstände nicht erforscht sind.
Aufgabe der Provenienzforschung an der Staatsbibliothek ist es somit, drei Millionen Bücher des historischen Druckschriftenbestandes und weitere Millionen Objekte in den zahlreichen Sondersammlungen zu prüfen. Fast 74.000 Bände konnten bisher untersucht werden, weitere Daten zur Herkunft von Objekten sind im Rahmen der nationalbibliographischen Verzeichnung (z.B. VD 17-Datenbank), der Handschriften- und Inkunabelerschließung und weiterer Projekte entstanden.
Nur einige geschlossen aufgestellte Sammlungen wie z.B. die 1817 erworbene Bibliothek des Diplomaten Heinrich Friedrich von Diez können bei der Recherche a priori ausgeschlossen werden. Die große Masse der zu prüfenden Bestände dagegen ist nach der Systematik des Alten Realkataloges aufgestellt. Durch diese sachliche Aufstellung in den Magazinen der Staatsbibliothek lässt sich nicht ohne weiteres erkennen, wann die Bücher erworben wurden (z.B. vor oder nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933).
Das Quellenproblem
Wie wählen die Provenienzforscher*innen angesichts dieser unüberschaubaren Massen die Bestände aus, die vorrangig geprüft werden sollen?
Für die Zeit von 1933 bis 1945 sind glücklicherweise die meisten Zugangsbücher oder „Akzessionsjournale“ erhalten: Große Bände mit vorgedruckten Spalten, in die unter einer laufenden Nummer Tag für Tag die Titel handschriftlich eingetragen sind, die „akzessioniert“, d.h. in den Bestand der damaligen Preußischen Staatsbibliothek aufgenommen wurden. In den so akzessionierten Büchern wurde diese für jeden Band eindeutige Zugangsnummer ebenfalls eingetragen, so dass man vom Buch ausgehend den zugehörigen Eintrag im Zugangsbuch nachschlagen kann.
Bei bisherigen Projekten gingen die Provenienzforscher*innen diesen Weg in umgekehrter Richtung: Die ca. 400.000 einschlägigen Einträge in den Akzessionsjournalen der Preußischen Staatsbibliothek aus den Jahren 1933 bis 1945 wurden auf die Lieferantenangaben geprüft und die dabei ermittelten knapp 20.000 verdächtigen Zugänge – dies leistete maßgeblich Karsten Sydow im Rahmen einer Masterarbeit – in einer internen Datenbank erfasst. Auf dieser Basis wurden 2010 bis 2014 über 10.000 Titel als besonders verdächtige Zugänge aus der NS-Zeit geprüft, d.h. über die Katalogdaten suchten die Forscher*innen nach Exemplaren der jeweiligen Titel und dann nach der Zugangsnummer im Buch.
Aus den Zugangsbüchern selbst lässt sich in sehr vielen Fällen nicht auf den ursprünglichen Eigentümer der verzeichneten Bücher schließen: Die Lieferanteneinträge nennen die Person oder Firma, von der die Bände angekauft oder als „Geschenk“ übernommen wurden. Neben Antiquariaten und Buchhandlungen finden sich hier Landratsämter, Polizeibehörden und NS-Organisationen, die eine Beschlagnahme vermuten lassen. Von wem die geraubten Werke stammen, ist in den meisten Fällen nur durch Spuren am Exemplar selbst oder über zusätzliche Quellen zu ermitteln.
Im abgebildeten Fall informiert ein Schreiben des als Lieferant genannten Landrates des Kreises Reichenbach im Eulengebirge in den historischen Akten darüber, dass die am 27. Mai 1936 als „Dona“ in der Preußischen Staatsbibliothek verzeichneten Bücher aus der Arbeiterwirtschaftsschule Steinseifersdorf stammen (auf dem Schreiben wurden sogar nochmals die Zugangsnummern D 1936.424-427 der eingelieferten Titel notiert):
Aber: Nur in seltenen Fällen finden sich solche zusätzlichen und weiterführenden Quellen. Nach Kriegsende 1945 werden unbearbeitete oder „herrenlose“ Bestände weiter verteilt bzw. mit erheblichem zeitlichen Abstand bearbeitet – dann sehr oft wie oben abgebildet mit der Angabe „Alter Bestand“ oder „A.B.“, gewissermaßen eine Nullinformation zum Lieferanten, die keinerlei Hinweise auf einen zu verfolgenden Anfangsverdacht erlaubt.
Das Spurenproblem
Für die bibliothekarische Provenienzforschung sind somit die Spuren in und an den Büchern und anderen Sammlungsobjekten von entscheidender Bedeutung – denn meist handelt es sich hier um in großer Stückzahl produzierte Drucke und nicht um unikale Werke. Der Weg eines Buches, das als verdächtiger Zugang oder in anderem Zusammenhang geprüft wird, kann in den meisten Fällen nur dann bis zu seinem rechtmäßigen Eigentümer – Person oder Institution – zurückverfolgt werden, wenn sich im Buch Spuren wie Stempel, handschriftliche Einträge, Exlibris oder andere Merkmale finden, die eine eindeutige Zuordnung erlauben. Dabei geht es oft darum, vielfältige und schwer erkennbare Spuren richtig zu deuten sowie zeitlich zu ordnen und so eine Exemplargeschichte zu rekonstruieren, die über mehrere Jahrhunderte reichen und zahlreiche unterschiedliche Vorbesitzer umfassen kann.
Nicht immer sind die Ergebnisse so klar wie bei den Büchern aus der Privatbibliothek der 1942 nach Riga deportierten und ermordeten Berliner Jüdin Hedwig Hesse mit ihrem eindrücklichen Exlibris, auf dem eine Eule mit Messer und Gabel ein Buch „verspeist“.
Durch die Kooperation mit anderen Bibliotheken lässt sich das Schicksal Hedwig Hesses und ihrer Bücher inzwischen genau nachvollziehen: Die Berliner Stadtbibliothek kaufte 1943 die bei der Deportation zurückgelassenen Bücher Hedwig Hesses von der Pfandleihanstalt der Stadt Berlin und gab einige der Bände nach 1945 an andere Bibliotheken weiter. Durch das Exlibris waren diese Bände leicht zuzuordnen, und so konnten diese Bücher 2018 zusammen mit Bänden aus der SLUB Dresden den rechtmäßigen Erben übergeben werden.
Doch dies ist die Ausnahme: Viele Bücher haben keinerlei identifizierbare Spuren und erschweren so die Recherchen der Provenienzforscher*innen. Die Suche nach Walter Benjamins von den Nationalsozialisten in Paris geraubter Bibliothek wird zwar seit Jahren intensiv betrieben, hat aber bisher mangels Kennzeichnung der Bücher durch ihren Eigentümer (nur handschriftliche Randbemerkungen können zur Identifizierung der Exemplare beitragen) kaum Erfolg gehabt.
Manche Spuren wurden darüber hinaus systematisch vernichtet, z.B. Namen bzw. Stempel geschwärzt, Etiketten oder Exlibris herausgerissen. Doch auch gut lesbare Namen können eine Herausforderung bleiben, denn oft kommen mehrere Personen in Frage, und der entscheidende Hinweis ist manchmal auch nach Jahren engagierter Forschung nicht zu finden. Gerade in diesen Fällen ist es schwer, der Versuchung einer schnellen, aber wissenschaftlich nicht vertretbaren Lösung zu widerstehen. So wissen wir bis heute nicht, welcher Heinrich Stahl das Exlibris mit dem Motto „Semper prorsum, numquam retrorsum“ (immer vorwärts, niemals zurück) in seine Bücher klebte oder kleben ließ und ob es sich dabei um NS-Raubgut handelt – obwohl der im abgebildeten Fall getilgte Name sich dank anderer Exlibrisfunde entschlüsseln ließ.
Auch die Identität Georg Manasses gab zunächst Rätsel auf, in Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen der WLB Stuttgart konnten hier aber ein Stettiner Kaufmann und sein gleichnamiger Sohn den beiden in den Büchern entdeckten Exlibris zugewiesen werden – nicht zuletzt anhand des Stettiner Stadtwappens im Exlibris des Vaters.
Das Verlagerungsproblem
Noch komplizierter wird die Arbeit der Provenienzforscher*innen, wenn die Suche nach den im Akzessionsjournal verzeichneten Titeln trotz der inzwischen fast durchgehend im Online-Katalog der Staatsbibliothek erfassten Bestände ins Leere führt: Kein Exemplar trägt die gesuchte Zugangsnummer oder es ist gar kein Exemplar im Bestand zu finden bzw. das gesuchte Exemplar muss zu den Kriegsverlusten gerechnet werden und ist deshalb nicht mehr greifbar – gehört also zu den „verlagerten Beständen“. Die während des Zweiten Weltkrieges aus Sicherheitsgründen in über 30 verschiedene Depots ausgelagerten Bestände der Preußischen Staatsbibliothek kehrten nur zu rund zwei Dritteln nach 1945 zurück. Und auch diese zwei Drittel konnten wegen der Teilung Deutschlands erst nach 1990 in jahrzehntelanger Arbeit wieder zusammengeführt sowie der aktuelle Standort geprüft und elektronisch erfasst werden.
Dieses Problem begegnet den Forscher*innen ausgerechnet bei den historischen Drucken zum jüdischen Leben und Glauben besonders häufig, aber auch bei der schwierigen Suche nach dem Verbleib von Sozialistica spielt das Verlagerungsproblem eine Rolle. Bevor 536 gleich zu Beginn der NS-Herrschaft beschlagnahmte Bücher vor knapp zwei Jahren an das Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt am Main zurückgegeben werden konnten, mussten über Jahre komplexe Recherchen geleistet werden.
In diesem Fall fehlte den Forscher*innen obendrein die so wichtige Grundlage der Akzessionsjournale, denn die damals separat angelegten IfS-Journale sind nicht erhalten. Der Versuch, stattdessen über den alphabetischen Zettelkatalog einschlägige sozialistische Literatur zu finden und dann die auf den Katalogkarten vermerkte Zugangsnummer zu prüfen, brachte zwar durchaus Ergebnisse, darunter aber rund 100 verlagerte Exemplare – diese Bücher stammen zwar eindeutig aus der IfS-Bibliothek und wurden vor 1945 in den Bestand der Preußischen Staatsbibliothek eingearbeitet, befinden sich aber heute z.B. in Polen oder Russland bzw. die Bände sind in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit vernichtet worden.
Das Zersplitterungsproblem
Natürlich bemühen sich die Provenienzforscher*innen bei ihren Recherchen, vom NS-Regime geraubten Sammlungen möglichst vollständig auf die Spur zu kommen – auch über den Bestand der Staatsbibliothek hinaus. In vielen Fällen, auch bei der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung und vielleicht noch eklatanter bei der 1941 in Paris beschlagnahmten Privatbibliothek des weltberühmten Pianisten Artur Rubinstein, lassen die bisherigen Forschungsergebnisse das Ausmaß der Zersplitterung planvoll zusammengetragener Sammlungen immerhin erahnen.
Rubinsteins Bücher gelangen nach der Beschlagnahme 1941 durch den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg zunächst ins Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin, dann – nach 1945 – werden die Bücher teils als „Trophäen“ in Richtung Moskau verbracht (heute teilweise im Glinka-Museum), teils sind sie in den Akten des Central Collecting Point (CCP) Wiesbaden fassbar. Etwa ein Jahrzehnt später lassen sich einige Bücher aus Rubinsteins Bibliothek – vermutlich in Berlin zurückgebliebene Sammlungsteile – in der Deutschen Staatsbibliothek (DSB) und in der inzwischen ebenfalls in Berlin angesiedelten Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände (ZwA) nachweisen, diese werden von der ZwA wiederum verteilt und z.B. an die Universitätsbibliothek Leipzig abgegeben. Und zu guter Letzt findet mindestens eines von Rubinsteins Büchern von Moskau aus den Weg bis nach Ischewsk, in die Nationalbibliothek der Republik Udmurtien im heutigen russischen Föderationskreis Wolga.
In all diesen Fällen ist die auch nur annähernde Rekonstruktion der durch das NS-Regime geraubten und meist schon vor 1945 auseinandergerissenen und verteilten Büchersammlungen eine unglaublich zeitaufwändige Aufgabe – und die Zersplitterungsprozesse setzen sich nach 1945 bis heute fort und sind oft noch schwerer nachzuvollziehen, da weitgehend unerforscht.
Trotz aller Probleme: Es geht voran!
Die Provenienzforscher*innen der Staatsbibliothek haben trotz all dieser Schwierigkeiten in den vergangenen Jahren bereits eine große Menge an wertvollen Forschungsdaten produziert und z.B. Knotenpunkte der Verteilung von Büchern vor und nach 1945 herausgearbeitet und beschrieben: Neben der bereits von Cornelia Briel analysierten Reichstauschstelle die Bibliothek des Reichssicherheitshauptamtes, das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut, das Institut für Staatsforschung, das Antiquariat Agnes Straub und die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände.
Insgesamt konnten bereits über 73.000 Exemplare auf ihre Provenienz hin geprüft werden, fast 2.200 Bücher konnten ihren rechtmäßigen Eigentümer*innen oder deren Erb*innen übergeben werden, und über 4.200 Bände sind als NS-Raubgut zwar identifiziert, die Ermittlung von Erben und Rechtsnachfolgern muss aber noch geleistet werden.
Diese Widmung richtete der Kosmopolit Hans Hasso von Veltheim-Ostrau an den Rabbiner Leo Baeck zum Jahreswechsel 1939/1940 – passend zu krisenhaften Zeiten! Das so Leo Baeck geschenkte Buch gelangte 1943 über die Gestapo in die Preußische Staatsbibliothek, war vor 1945 aus Berlin ausgelagert und kehrte erst 1965 als Restitutionsexemplar aus der Warschauer Universitätsbibliothek in die Deutsche Staatsbibliothek zurück – eine der vielen Exemplargeschichten, die bereits im Online-Katalog der Staatsbibliothek erfasst sind.
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