„Gelehrtes Frauenzimmer“ – Weit mehr als Voltaires Geliebte! Émilie du Châtelet (1706-1749)

Ein Beitrag von Stefan Duhr und Katrin Böhme.

Im Jahr 2018 konnte die Staatsbibliothek zu Berlin eine rund 1000 Bände umfassende Bibliothek mit Schriften von und über Voltaire erwerben. Inzwischen ist diese Sammlung vollständig katalogisiert und im StabiKat recherchierbar. Dieser Beitrag handelt nun von der wohl wichtigsten Frau im seinem Leben: Émilie du Châtelet.

Ohne Frage, sie hatte sowohl die Möglichkeiten, die andere Frauen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht hatten, als auch die persönlichen Voraussetzungen und Talente, gepaart mit ungewöhnlicher Wissbegierde, Fleiß und Ehrgeiz, die sie zur femme savante und Physikerin werden ließen. Als Tochter des am Versailler Hof als Offizier und hoher Beamter tätigen Louis Nicolas Le Tonnelier de Breteuil (1648-1728) und seiner zweiten Frau Gabrielle-Anne de Froulay (1670-1740) wuchs sie unter finanziell gut situierten Verhältnissen auf. Zu einer standesgemäßen Erziehung gehörte eine umfangreiche propädeutische Ausbildung, die durch Hauslehrer vermittelt wurde. Émilie erhielt zudem Unterricht in den sogenannten weiblichen Fächern wie Tanz, Musik, Hauswirtschaft, Nadelarbeit, aber auch in mehreren Fremdsprachen (Italienisch, Spanisch, Englisch und Deutsch) einschließlich alter Sprachen (Latein und Altgriechisch) sowie Naturwissenschaften, Geometrie, Geographie, Astronomie und Philosophie. Ihr aufgeklärtes Elternhaus legte Wert auf Bildung, ganz unabhängig vom Geschlecht. So übersetzte sie nicht nur altsprachliche Texte, sondern zeigte auch Interesse für Mathematik und Metaphysik und nutzte, um ihr reges Lesebedürfnis zu stillen, die umfangreiche Bibliothek ihrer Eltern. 1725, Émilie war mit 18 Jahren in angemessenem Alter, heiratete sie standesgemäß Marquis Florent Claude du Chastellet (1695-1765, später Châtelet) und lebte fortan auf dessen Familienbesitz in Semur-en-Auxois (heute im Département Côte-d’Or). Das Paar hatte drei Kinder. 1730 verlegte sie allein ihren Wohnsitz nach Paris.

Für Émilie diente die Ehe in erster Linie der finanziellen Absicherung und der Wahrung des gesellschaftlichen Status. Höhere Bildung war, wenn überhaupt, nur für Frauen ihres Standes erreichbar. Und so nutzte sie die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, um ihren Bildungsneigungen und wissenschaftlichen Interessen nachzugehen. Sie erarbeitete sich im Selbststudium umfangreiches Wissen über Physik, Metaphysik, Mathematik und Philosophie und entwickelte sich zu einer Kennerin der Schriften von Isaak Newton. Darüber hinaus suchte sie ihr Wissen durch den Kontakt zu Gelehrten zu erweitern, indem sie Unterrichtsstunden nahm oder in Briefwechseln wissenschaftliche Fragen erörterte. Zu nennen wären hier u.a. der Mathematiker und Naturforscher Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698-1759), der Mathematiker Alexis Claude Clairaut (1713-1765) sowie der Sekretär der Akademie der Wissenschaften Paris, Jean-Jacques d‘Dortous de Marain (1678-1771). Zu ihren Briefpartnern sollte später auch der preußische König Friedrich II. gehören.

Bei gesellschaftlichen Anlässen oder in den auch Frauen zugänglichen Pariser Salons nutzte sie die Möglichkeit, in gelehrter Konversation naturwissenschaftliche und philosophische Fragen zu diskutieren. Hier lernte sie auch 1733 den Philosophen und Schriftsteller Voltaire (1694-1778) kennen, der die offenbar beeindruckende Begegnung mit Émilie folgendermaßen schilderte:

Im Jahr 1733 fand ich eine junge Dame, die ungefähr so dachte wie ich und den Entschluss fasste, mehrere Jahre auf dem Land zu verbringen, um dort fernab vom Trubel der Welt ihren Geist zu kultivieren: Es war die Marquise du Châtelet, die Frau Frankreichs, die am meisten für alle Wissenschaften veranlagt war.“  („Je trouvai, en 1733, une jeune dame qui pensait à peu près comme moi, et qui prit la résolution d’aller passer plusieurs années à la campagne pour y cultiver son esprit, loin du tumulte du monde : c’était Mme la marquise du Châtelet, la femme de France qui avait le plus de disposition pour toutes les sciences.“ – Quelle: Mémoires pour servir à la vie de Voltaire écrits par lui-même 1759)

 

Portrait Émilie du Châtelet, von Maurice Quentin de La Tour (Wikimedia commons)

 

Voltaire kam als Autor satirischer Gedichte und Theaterstücke wiederholt in Konflikt mit den französischen Polizeibehörden. Die Veröffentlichung seiner Lettres philosophiques über das englische Staatssystem zog gar einen Strafbefehl nach sich. So war er gezwungen, Paris zu verlassen und suchte Zuflucht im Schloss Cirey-sur-Blaise (heute im Département Haute-Marne), das dem Ehemann Émilies gehörte. Der duldete offenbar die Liebschaft, so wie auch er bald nach der Hochzeit eine Geliebte hatte.

Für viele Jahre war das Schloss Cirey der Lebensmittelpunkt des ungewöhnlichen Paares und ein Ort für philosophische Diskussionen, physikalische Experimente und Theateraufführungen. Auf Veranlassung Émilies und Kosten Voltaires wurde es umfassend saniert, später um einen Bibliotheksflügel mit Labor erweitert und entwickelte sich zu einem Treffpunkt für die Gelehrten dieser Zeit. In seiner Liebe zu Émilie begann Voltaire, ihre naturwissenschaftlichen Neigungen zu teilen und verfasste selbst ein allgemeinverständliches Lehrbuch über die Lehren und physikalischen Gesetze von Isaac Newton (parallele Ausgaben: Amsterdam: Ledet, 1738 und Amsterdam: Desbordes, 1738), an dessen Entstehung sie einen wesentlichen Anteil hatte. In der ausführlichen Widmung an seine Geliebte verehrt Voltaire sie als „Minerva von Frankreich… Schülerin von Newton und der Wahrheit“, die seine „Fenster mit den Feuern [ihrer] Klarheit“ durchdringe. Aber auch Émilie nutzte die Möglichkeiten für physikalische Experimente und die Niederschrift wissenschaftlicher Abhandlungen.

Auf eine Preisfrage der Pariser Akademie der Wissenschaften zur Natur des Feuers reichten beide unabhängig voneinander 1737 eine Ausarbeitung ein. Voltaire stützte sich hier u.a. auf die Annahmen Newtons und eigene Experimente. Émilie hielt ihre Beteiligung an dem Preisausschreiben bis zum Schluss auch vor Voltaire geheim, um sich nicht frühzeitig der Kritik und möglicherweise dem Spott auszusetzen. Schließlich war sie eine Frau, und somit von gelehrter bzw. wissenschaftlicher Tätigkeit und den Aktivitäten einer Wissenschaftsakademie ausgeschlossen. Außerdem wollte sie einzig an ihrer Leistung gemessen werden. Wie sie nach der Preisvergabe ihrem Mentor Maupertuis schilderte, fürchtete sie zudem Voltaires Missfallen, da sie sich auch fachlich in zahlreichen Punkten gegen seine Darlegungen aussprach. Voltaires und ihr Beitrag wurden zwar nicht mit einem Preisgeld bedacht. Jedoch konnte er erreichen, dass beide Abhandlungen in den Band aufgenommen wurden, in dem auch die prämierten Schriften enthalten sind. So findet sich Émilie neben Voltaire hier im gelehrten Kreis mit dem Schweizer Mathematiker Leonhard Euler (1707-1783), dem Jesuitenpater Louis Antoine Lozeran du Fiesc (1697–1755) und dem Marquis Louis Marie de Créquy (1705–41).

Bereits ein Jahr danach erfolgte der erste Druck ihres Physiklehrbuchs, das sie ganz offenbar in dem Bewusstsein dafür schrieb, wie wichtig eine umfangreiche Bildung besonders für junge Menschen ist. Es wurde unter anderem auch für den häuslichen Unterricht ihres Sohnes Louis Marie Florent (1727-1793) verwendet. Ihre Tochter Francoise Gabrielle Pauline (1726 – 1754) erhielt ihre Erziehung in einer Klosterschule. Ursprünglich anonym erschienen, heißt es im Vorwort: „Die heiligste Pflicht der Menschen ist, ihren Kindern eine Erziehung zu geben, die sie daran hindert, später im Leben ihre Jugend zu bereuen“. Wie aus der Notiz des Buchhändlers in der Erstausgabe 1740 hervorgeht, verzögerte sich allerdings die Publikation des Werkes um zwei Jahre, da „der Autor“ den Text noch einmal überarbeiten und vor allem um eine kurze Darstellung der Lehren zur Metaphysik von Gottfried Wilhelm Leibniz ergänzen wollte. Dieses Lehrbuch erschien innerhalb weniger Jahre in weiteren Ausgaben und Übersetzungen, ab 1742 unter ihrem Namen und 1743 in einer deutschen Übersetzung.

Für die Wissenschaftsgeschichte bedeutend ist Émilie du Châtelets französische Übersetzung von Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica , das 1687 erschienene Hauptwerk des englischen Physikers, in dem er das Gravitationsgesetz formulierte und die Grundlagen seiner Bewegungslehre darlegte, die wir heute als Newtonsche Gesetze kennen. Eine vollständige Ausgabe unter dem Titel Principes mathématiques de la philosophie naturelle, par feue Madame la Marquise Du Chastellet, erschien erst 1759. Mit ihrem umfangreichen Kommentar, welcher der Übersetzung beigefügt ist, geht sie weit über eine reine Übersetzung hinaus. Vielmehr handelt es sich hier durch die Anwendung der Differentialrechnung um eine Weiterentwicklung der Physik Newtons und damit als Beitrag zur Weiterentwicklung der Newtonschen Mechanik.

Voltaire war nicht der einzige Geliebte Émilies, aber derjenige, mit dem sie offenbar am längsten liiert war. Die Beziehung war sicherlich auch durch den intellektuellen Gleichklang, gegenseitiges Lernen und den wissenschaftlichen Austausch bestimmt. Auch nach dem Ende der intimen Beziehung zu Voltaire arbeitete sie wissenschaftlich, hauptsächlich an der schon erwähnten Übersetzung von Newtons Principia.

Mit einer für die damalige Zeit späten Schwangerschaft mit 43 Jahren, ihr neuer Liebhaber Jean-François de Saint-Lambert (1716-1803) war 10 Jahre jünger als sie, forderte sie sich und dem Schicksal offenbar zu viel ab. Sie starb, noch ganz mit dem Kommentar zu Newtons Principia beschäftigt, nach der Geburt einer Tochter am 10. September 1749 an Kindbettfieber. Ihr Ehemann, Voltaire und Saint-Lambert trauerten gemeinsam um ihre Liebe.

Neben ihren bemerkenswerten wissenschaftlichen Werken hat Émilie du Châtelet der Nachwelt mit dem zwischen 1744 und 1746 verfassten „Discours sur le Bonheur“ auch einen literarischen Text hinterlassen. Von Émilie ursprünglich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, spricht sie ganz freimütig von ihren Ansichten und Lebensauffassungen. Die „großen Maschinen des Glücks“ sieht sie in der Akzeptanz des Unüberwindbaren und Unabänderlichen, in der Pflege von Leidenschaften, im Streben nach Anerkennung, in Tugendhaftigkeit als gesellschaftlichem Beitrag, in der Überwindung von Vorurteilen, der Bewahrung von Illusionen im Sinne des bewussten Nichtwissens, aber auch in der Liebe, dem Glücksspiel und dem Vermeiden von Reuegefühlen. Eine der hervorgehobenen Leidenschaften ist die „amour de l’étude“, die besonders den Frauen eine innere Unabhängigkeit ermöglicht und womit besonders ihnen ein Weg zum Glück offensteht.

„Es ist sicher, dass die Liebe zum Studium für das Glück der Männer weit weniger notwendig ist als für das der Frauen. Männer haben unendlich viele Mittel, um glücklich zu sein, die den Frauen völlig fehlen. Sie haben viele andere Mittel, um Ruhm zu erlangen, und es ist sicher, dass der Ehrgeiz, seine Talente für sein Land nützlich zu machen und seinen Mitbürgern zu dienen, sei es durch seine Geschicklichkeit in der Kriegskunst oder durch seine Talente in der Regierung oder in Verhandlungen, weit über [den] Ehrgeiz hinausgeht, den man sich für das Studium vornehmen kann; Aber die Frauen sind durch ihren Stand von jeder Art von Ruhm ausgeschlossen; und wenn sich zufällig eine findet, die mit einer recht hohen Seele geboren ist, so bleibt ihr nur das Studium, um sie über all die Ausschlüsse und Abhängigkeiten zu trösten, zu denen sie durch ihren Stand verurteilt ist.“ (Rede vom Glück, gedruckt 1779)

Als bedeutende femme savante der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat Émilie du Châtelet den hier beschriebenen Trost ganz sicher gefunden.

 

Zum Weiterlesen:

Eine vertiefte Darstellung des Bildungsweges von du Chatelet und ihre wissenschaftliche Tätigkeit findet man bei Frauke Böttcher: Das mathematische und naturphilosophische Lernen und Arbeiten der Marquise du Châtelet (1706-1749). Wissenszugänge einer Frau im 18. Jahrhundert.

Einen eher unterhaltsamen Einblick in Émilies Leben, aber in der deutschen Übersetzung ganz ohne Quellenangaben und – von der Gegenwart betrachtet – aus traditionell männlicher Sicht, bietet Samuel Edwards: Die göttliche Geliebte Voltaires. Das Leben der Émilie du Châtelet.

Zu den wissenschaftlichen Veröffentlichungen Émilie du Chatelets, insbesondere den Institutions physiques, siehe auch die Dissertation von Andrea Reichenberger 2014.

 

Werke:

 

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