Heinroth remastered
Nachlässe sind wie Schatzkisten. Die Sehnsucht ist groß, etwas zu entdecken. Doch der Schatz muss erst einmal gehoben werden. Was ist ein Schatz, Gold und Silber? In Bibliotheken wohl eher Erstdrucke, künstlerische Kostbarkeiten, Unikate wie Handschriften oder Autographen. Unikate sind unersetzlich.
Wohl auch Fotos, wenn sie Sammlungsgegenstände und in einzigartiger Fülle oder Thematik überliefert sind. 20.000 Glasplatten waren ein Schatz. Sie dokumentierten eine intensive Forschungsarbeit, die Oskar und Magdalena Heinroth über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten leisteten.
Zwischen 1904 und 1932 zogen Oskar und Magdalena Heinroth über 1.000 Vögel von 286 unterschiedlichen Arten auf. Ihre Beobachtungen beim Studium der körperlichen und psychischen Entwicklung der Vogelkücken protokollierten sie in Tagebüchern. Regelmäßig wurden Gewicht und Flügellänge der heranwachsenden Jungvögel gemessen. Jede Veränderung wurde dokumentiert. Den Heinroths fiel auf, was zuvor niemand beachtet hatte, nämlich daß sich die Farbmuster der weit geöffneten Rachen der nach Futter bettelnden Nestlinge von Art zu Art unterscheidet. Deshalb fertigten sie Zeichnungen von den verschiedenfarbigen Sperr-Rachen der Singvögel an. Diese stellten sie auf bunten Fototafeln dar.
Die standardisierte Fotodokumentation der heranwachsenden Vögel vom Schlupf bis zur Selbstständigkeit hatte bei Magdalena und Oskar Heinroth oberste Priorität.
Die für die Aufnahmen verwendete Kamera war eine 9 x 12 cm Plattenkamera der Marke Mentor von Goltz & Breutmann in Dresden. Das Gelingen der Aufnahmen setzte gute Teamarbeit voraus: Oskar fotografierte, Magdalena sorgte dafür, daß die Vogelkinder stillhielten. Zunächst wurden zahlreiche Pseudo-Aufnahmen ohne Glasplattennegativ gemacht, um die Tiere an das Geräusch zu gewöhnen. Die Fotoglasplatten waren teuer und mussten sofort entwickelt werden.
Für die sichere Aufbewahrung der Glasplatten ließen die Heinroths spezielle Schränke anfertigen. Wenn Oskar Heinroth einen seiner zahlreichen Vorträge hielt, konnte er seine Beobachtungen mittels seines Apparats und ausgewählter Fotos auf den Glasplatten dokumentieren. Für Publikationen und als Arbeitsmaterial wurden kleinformatige Kontaktabzüge im eigenen Fotolabor hergestellt. Diese Vorgehensweise war für die Zeit um 1910 eine absolute Neuerung.
Die Bombardierung des Aquariums im Zweiten Weltkrieg zerstörte nicht nur einen Teil des Lebenswerks von Oskar Heinroth und tötete die tierischen Bewohner des Aquariums. Auch die Glasplattensammlung mit den Negativaufnahmen wurde vernichtet. Mutmaßlich sind über 50% der ehemals vorhandenen Materialien für immer verloren. Oskar Heinroths zweite Frau Katharina rettete aus den Trümmern, aus Schutt und Schlamm unzählige kleine, dünne, blasse, und oft zertretene Kontaktabzüge auf Papier. Mit ihren zoologischen Kenntnissen ordnete sie diese und verstaute sie in kleinen Umschlägen und Tüten. Als Katharina Heinroth der Staatsbibliothek den Nachlaß ihres Mannes schenkte, gehörten diese Umschläge dazu. Hatten diese Blättchen einen Wert?
Dr. Karl Schulze-Hagen erkannte diesen Wert. Basierend auf seiner fünfjährigen Arbeit an diesem Bestand schrieb er gemeinsam mit unserer Kuratorin Frau Dr. Gabriele Kaiser das Buch „Die Vogel WG„. Der bekannte und mehrfach ausgezeichnete Naturforscher und Tierfotograf Klaus Nigge bearbeitete die schwer beschädigten Fotos. Dank ihm können wir diese Aufnahmen jetzt großformatig und in bester Qualität in unserer Ausstellung zeigen. Als Experte für Tierportraits wusste er, welche Position ein Vogel eingenommen hatte. Er wählte Bilder aus, auch wenn auf der Rückseite Angaben über die Motive fehlten. Von ungefähr 800 geretteten Fotografien sind 80 in unserer Ausstellung zu bewundern.
Das war der erste Blick in unsere Schatztruhe.
Ihr Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!