Neues aus der Musikabteilung Der Nachlass Harry Frohmans, geb. Frommermann (1906-1975)
„Und nun hören Sie den Hummelflug von Rimski-Korsakow, geblasen, getutet, gehummelt – alles ohne Instrumente – von Harry Frohman. The Vocal Orchestra.“ Mit diesen Worten kündigte Harry Frohman im Jahr 1953 eine seiner ungewöhnlichsten Aufnahmen an, in der er die bekannte Melodie von Rimski-Korsakow auf ganz eigene Weise zum Leben erweckte: A cappella, also ganz „ohne Instrumente“. Stattdessen erzeugte er mit seiner Stimme durch Lautmalerei verschiedene Klänge, die sowohl die Melodie als auch die Illusion von Instrumenten nachahmten. Zwar war diese Form der stimmlichen Gestaltung in den Vokalensembles jener Zeit nicht völlig neu, doch das Besondere – oder besser gesagt: das Innovative – lag in der konsequenten Nutzung des Magnetophons. Frohman nahm seine Stimme mehrfach auf Tonband auf und kombinierte etwa zwanzig einzelne Spuren zu einem vielschichtigen Klangbild. So realisierte er eine künstlerische Vision, die ihn offenbar schon lange beschäftigte: das „Ein-Mann-Orchester“.
Frohmans Nachlass, der in der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt wird, belegt die Häufigkeit, mit der sich Frohman mit dem Hummelflug auseinandersetzte (insgesamt 18 Arrangements). Eine dieser Fassungen dürfte die Grundlage für die erwähnte Aufnahme gewesen sein. Der Nachlass eröffnet darüber hinaus Einblicke in die kreative Entwicklung und musikalische Laufbahn des Künstlers in den 1950er- und 1960er-Jahren, einer Zeit, die von Brüchen und Neubeginnen geprägt war. Um Frohmans Werk in dieser späteren Schaffensphase angemessen würdigen zu können, lohnt es sich, seinen ungewöhnlichen Lebensweg näher zu betrachten.
Harry Frohman, 1906 in Berlin als Max Harry Frommermann geboren, war der Gründer der Comedian Harmonists, des legendären Vokalensembles, das mit seinem harmonischen Gesang und humorvollen Auftritten die Musikszene der Weimarer Republik prägte und internationalen Ruhm erlangte. Doch mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus kam das abrupte Ende: Da mehrere Mitglieder jüdischer Herkunft waren – Frohman selbst eingeschlossen –, wurde die Gruppe zur Auflösung gezwungen.
Frohman emigrierte zunächst nach Österreich und später über London in die USA, wo er seinen Namen anglifizierte und zu „Frohman“ änderte. Dort versuchte er, eine neue Existenz als Musiker und Arrangeur aufzubauen. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er überraschend nach Deutschland zurück. Ursprünglich war er als Dolmetscher für die Vorbereitungen der Nürnberger Prozesse vorgesehen, doch er entschied sich für einen anderen Weg und übernahm vom 1946 bis1948 eine Stelle als Kontrolloffizier beim RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) in Berlin. 1949 war er mit dem in Amerika neu gegründeten „Comedian Harmonists“-Ensemble von Erich Collin auf Tournee in Europa – eine Kollaboration, die mehrere Monate dauerte.
Um 1950 zog es ihn weiter nach Rom, wo er für den italienischen Radio Audizioni Italiana RAI als künstlerischer Beirat tätig wurde. Noch im selben Jahr gründete er die Vokalgruppe Harry Frohman and His Harmonists, auch bekannt unter dem italienischen Namen Sei voci ed un pianoforte – „Sechs Stimmen und ein Klavier“. Das Ensemble etablierte sich rasch als fester Bestandteil des RAI-Programms und trat regelmäßig im Radio auf.

Harry Frommermann (rechts) mit seiner Gruppe „Harry Frohman and his Harmonists“ (Archiv Peter Czada, Berlin) Rom, um 1950
In nur einem Jahr arrangierte Frohman beeindruckende 55 Stücke für sein Vokalensemble in Rom. Diese Werke sind im Nachlass nahezu vollständig überliefert – inklusive Stimmenmaterial und Klavierauszügen – und zeugen eindrucksvoll von seiner künstlerischen Vielseitigkeit. Das Repertoire reicht von klassischen Kompositionen wie Schumanns Carnaval und Bachs Aria sulla IV Corda über Musical- und Operettenmelodien – etwa Gershwins Summertime oder Cole Porters So in Love – bis hin zu lateinamerikanischen Rhythmen und Spirituals wie Baía oder Deep River.
Die Arrangements, geschrieben „individuell an den Leib“ der Ensemblemitglieder (Frohman in: Fechner 1988, S. 354.) tragen unverkennbar Frohmans Handschrift: Er verstand es, verschiedene Musikstile gekonnt miteinander zu verbinden, führte die Stimmen klar und ausdrucksstark und sorgte für ein harmonisches Zusammenspiel der Sänger – ähnlich wie bereits in den Arrangements der Comedian Harmonists. Aus den überlieferten Materialien lässt sich auch die Besetzung rekonstruieren: Pietro Carapelluci, Tenor, Franco Corchia, Bariton, Omero di Mazo, Bass, Frohman selbst als Bassbuffo, Donatella Bianconi, Mezzosopran, sowie Gianna Rendi und Jeannine Morand, Sopranisten, die vermutlich abwechselnd auftraten. Am Klavier saß Aldo Frazzi.
Doch wie schon bei früheren Versuchen, mit einem Ensemble an den Erfolg der Comedian Harmonists anzuknüpfen, scheiterte auch dieses Projekt letztlich an inneren Spannungen und persönlichen Differenzen. Nach nur einem Jahr wurde die Gruppe aufgelöst, und Frohman wanderte erneut aus – diesmal über die Schweiz zurück in die USA.
In den frühen 1950er Jahren kreuzten sich die Wege von Harry Frohman, der zu dieser Zeit als Fabrikarbeiter in New York seinen Lebensunterhakt verdiente, und des jüngeren Komponisten Alfred Goodman (1920–1999). Beide stammten aus Berlin, waren jüdischer Herkunft und hatten während des Nationalsozialismus ihre Heimat verlassen. Goodman emigrierte 1940 über London in die USA und legte bei seiner Einbürgerung seinen ursprünglichen Familiennamen Guttmann ab. Ab 1948 studierte er Komposition an der Columbia University und komponierte noch im selben Jahr die kurze Oper The Audition, mit einem Drehbuch von Elliot Arluck. Für dieses Werk wurde Goodman 1954 mit einem Preis der University of Ohio in Athens ausgezeichnet, die Uraufführung erfolgte 1956 im Opera Workshop der University of Missouri.
Aus der Begegnung entstand in den Jahren 1957 und 1958 eine Zusammenarbeit zwischen Frohman und Goodman, bei der Frohman die Oper The Audition ins Deutsche übertrug und die Liedtexte musikalisch adaptierte. Unter dem neuen Titel Der Schauspieler erlebte das Werk am 20. April 1968 seine deutsche Uraufführung am Stadttheater Pforzheim – in einer von Frohman überarbeiteten Fassung. Das Programm umfasste zudem Die sieben Todsünden von Bertolt Brecht und Kurt Weill. Zu diesem Zeitpunkt hatten sowohl Frohman, der in Bremen lebte, als auch Goodman, der inzwischen in München ansässig war, den Weg zurück nach Deutschland gefunden.
Zahlreiche Librettos sowie Klavier- und Orchesterauszüge der Oper sind erhalten – Zeugnisse einer intensiven Auseinandersetzung mit The Audition und seiner deutschen Fassung Der Schauspieler. Diese Materialien ergänzen auf bemerkenswerter Weise den Nachlass Goodmans, der heute in der Akademie der Künste in Berlin verwahrt wird.
Der Nachlass Frohmans umfasst ein außergewöhnlich breit gefächertes Repertoire an Bearbeitungen, Transkriptionen und Arrangements, die sich über Jahrzehnte und zahlreiche Genres hinweg erstrecken. Darüber hinaus enthält er einige sehr wahrscheinlich originalen Kompositionen, wie z.B. „That certain something“. Die überlieferten Partituren – handschriftliche Manuskripte, gedruckte Hefte und Skizzen – dokumentieren nicht nur seine kreative Arbeitsweise, sondern auch seine Suche nach neuen Ausdrucksformen im Grenzbereich von Unterhaltung, Technik und künstlerischem Anspruch.

Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Marsch („Dances caractéristiques“) aus der Nussknacker-Suite, für Vokalensemble bearbeitet von Harry Frommermann (4. Mai 1950)
Diese Sammlung wirkt wie ein akustisches Kaleidoskop des 20. Jahrhunderts, betrachtet aus der Perspektive eines Einzelnen, der historisch verwurzelt und experimentierfreudig, unterhaltend als auch gestalterisch ambitioniert dachte. Mit spürbarer Neugier lotete Frohman die Möglichkeiten des vokalen Klangs und der instrumentaler Imitation durch die Stimme aus, wobei er oft technischer Mittel wie Mehrspuraufnahme und Tonbandmanipulation einsetzte. In Stücken wie seiner Vokalorchestra-Adaptation von Mendelssohn-Bartholdys Midsummer night‘s Dream, seiner Vokalnachahmung von 23 Instrumenten, sowie einem Potpourri von zehn Titeln für Orchestra Imitation auf Magnetophon, ein Vokalorchestra Studie, von Fred Gilford (alias Alfred Goodman)- wird seine Beschäftigung zu klanglichen Experimenten deutlich. Ob all diese Ideen tatsächlich zur Aufführung gelangten, bleibt offen.
Ein Werk scheint jedoch viele dieser Ansätze auf besondere Weise zu bündeln: die Aufnahme des Hummelflugs von Rimski-Korsakov. Ich […] wollte erproben, ob es technisch und rein physisch möglich sei, bis zu achtundzwanzig Stimmen in Form verschiedener Instrumentalimitationen so zu synchronisieren, daß der Eindruck entsteht hier spielt ein ganzes Orchestra. (Frohman in: Fechner 1988, S. 356.) Diese Aufnahme dokumentiert „zugleich seine Experimentierlust, aber auch seine Einsamkeit und Isolation“ (Czada/Große 1993, S. 131.) Frohmans wiederholte Versuche, seine Visionen im Kollektiv umzusetzen, scheiterten letztlich an äußeren Widerständen und inneren Spannungen. Am Ende blieb ihm vor allem die eigene Stimme – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. „Und so kam er auf die Idee, etwas zu machen, wo er keine Hilfe von anderen brauchte, wo er ganz allein auf sich gestellt war.“ erinnert sich seiner letzten Lebenspartnern Erika von Späth. (in: Fechner 1988, S. 356.)
Mithilfe von Mehrspurtechniken, stimmlicher Virtuosität und seinem feinen Gespür für klangliche Effekte schuf Frohman ein Stück, das durch seine Originalität besticht und als Ausdruck seiner künstlerischen Haltung verstanden werden kann: der eines musikalischen Einzelgängers, der ohne festes Ensemble, aber mit großer Vorstellungskraft seinen Weg verfolgte. The Vocal Orchestra, wie er sein Experiment nannte, war somit nicht nur ein akustisches Experiment, sondern auch die Verwirklichung eines Ideals: Musik als Solounternehmung, erschaffen aus der Stimme eines Einzelnen.
Autorin: Llane Fragoso Maldonado
Weitere Informationen:
Bibliographie
Jan Grübler, Kantoren, Künstler Kontinente -jüdische Schiksale-. Die Familie von Harry Frommermann, Gründer der „Comedian Harmonists“, Berlin 2014.
Eberhard Fechner, Die Comedian Harmonists: sechs Lebensläufe, Berlin 1988.
Peter Czada/Günter Grosse, Comedian Harmonists: ein Vokalensemble erobert die Welt, Berlin 1993.



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