Das besondere Objekt: Walter Schurichts „Das Motorrad und seine Behandlung“ (1920)

Die Blog-Reihe „Das Besondere Objekt“ möchte Ihnen in lockerer Folge besondere Titel aus den Beständen der Staatsbibliothek vorstellen. Unterschiedlichste Themen sollen zur Sprache kommen und werden Sie vielleicht in unsere Lesesäle locken.

Walter Schurichts „Das Motorrad und seine Behandlung“

 

„Walter Schuricht? Jeder kennt den. Also: jeder Motorradfahrer“, sagt mein Mann und bekommt leuchtende Augen.

Plakatentwurf (1899) von Théophile Alexandre Steinlen [1859-1923] ,  Copyright: bpk / Kunstbibliothek, SMB / Knud Petersen

Der Motorradfahrer zu Anfang des 20. Jahrhunderts

Den vorliegenden Klassiker der Zweiradliteratur (4., verbesserte Auflage) kannte mein Mann jedoch nicht. Hier kann man alles lernen, was es zu diesem Thema in den Jahren 1907 bis 1920 zu wissen gab. Und ich muss sagen: Walter Schuricht (1888 – 1925) hält, was er verspricht. Als Ingenieur und Fahrzeugbauer kennt er sich aus. Kein Wunder, dass er auch der Wegbereiter unserer heutigen Führerscheinprüfung war! (1)

Walter Schuricht ist noch keine 30 Jahre alt, als er 1907 sein gesamtes Wissen über das noch relativ neue Fortbewegungsmittel (2) veröffentlicht. Vor kurzen erst waren Motorräder nur motorisierte Fahrräder gewesen. Im Laufe der Zeit wurden Rahmenbau, Motoren und Tanks den veränderten Ansprüchen an Stabilität und Haltbarkeit angepasst. Denn wir haben es mit einem Explosionsantrieb zu tun! Laien wie mir wird das erst bei der Lektüre bewusst. Dabei wandte sich das motorisierte Fahrrad auch an die Damen – zumindest in Frankreich.

 

Vom Allgemeinen hin zum Besonderen beschreibt der Autor alle Details der Maschine, und das aus gutem Grund: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es nur sehr vereinzelt Werkstätten, die sich mit der Reparatur von Motorrädern auskannten. Wer eine längere Tour unternehmen wollte, tat also gut daran, nicht nur das Fahren geübt zu haben und viel Werkzeug mitzunehmen, sondern weit im Voraus einen Überblick über die Technik und alle notwendigen Handgriffe bei eventuellen Pannen zu gewinnen. Sogar eine mittels Glühbirnenfassungen gebastelte Ladevorrichtung für die Batterie findet sich in der reichen Bebilderung.

 

Und wozu das Ganze? Nur des sicheren Fahrens wegen? Aber nein, nach einer Rüge des Anfängers, der seine Maschine nicht ausreichend schmiert und ölt, schreibt Schuricht: „Der gewissenlose Fahrer denkt nicht daran, daß der Motor einem Lebewesen gleicht, dessen Alter er verlängern kann durch Diät, ein Vermeiden von zuviel und zuwenig; ferner durch genaues Studium seiner Bedürfnisse, die bei jedem Motor andere sein können, und zuletzt, daß er ihm sehr schaden kann durch Sparsamkeit am falschen Platze.“ (S. 74). Eine allgemeine Lebensweisheit in einem Buch über Motorräder zu finden, hätte ich nicht erwartet.

Was alles zu bedenken ist! Damals war ein automatisches Zuführen von Benzin und Öl durchaus nicht selbstverständlich, es galt, die richtigen Hebel zu bedienen. Man musste in der Lage sein, den Ventilsitz zu beurteilen und zu korrigieren, wozu man u.a. zerstoßenes Glas brauchte; man musste verbrauchtes Öl regelmäßig entfernen und erneuern, den Schwimmer im Vergaser auf Löcher prüfen (wozu man ihn in kochendes Wasser legt, bis das gasförmige Benzin blubbernd dem Leck entweicht), und vieles mehr. Wer an heutige Motorräder denkt, fragt sich vielleicht, wie man sich für ein so arbeitsintensives Gerät entscheiden konnte. Schuricht zählt auf: Geringe Anschaffungskosten, bequemes Unterstellen, niedrige Betriebskosten, leichte Lenkbarkeit und die Anpassungsfähigkeit im Straßenverkehr. Besonders letzteres scheint noch heute ein geschätzter Vorteil zu sein, wenn man schicke Flitzer durch die Staus der Stadt kurven sieht. Damals jedoch galt es, dafür vollen Einsatz zu zeigen!

Welch ein Wissensschatz für Oldtimer-Schrauber! Selbst ich habe dieses Buch mit großem Gewinn gelesen, vor allem, weil sich der Autor einer wunderbar klaren, gelegentlich poetischen Sprache bedient, die man heute in technischen Anleitungen vergeblich sucht: „Der Zylinder ist mit seinen diversen Rohr-Ein- und-Ausmündungen, den sich auf und ab bewegenden Ventilen und der elektrische Schläge austeilenden Zündkerze für den Laien ein gar geheimnisvolles Ding. In der Tat birgt der Zylinder die Seele des Motors.“ (S. 62). Ich gestehe rundheraus: Erst jetzt verstehe ich, was das überhaupt bedeutet: Gas geben! Hand auf’s Herz: Wussten Sie, dass das Benzin erst durch Zerstäubung einen gasförmigen Zustand annehmen muss, bevor es explodieren und das Räderwerk antreiben kann, und dass der Auspuff im Grunde ein Stoßdämpfer für die Vibrationen dieser Explosionen ist?

Und wer all dies schon weiß, profitiert spätestens vom Kapitel über den Motorradrennfahrer (S. 235). Der Fahrer darf keinen Moment das Auge von der Fahrbahn wenden, sondern muß alle Hebel durch Tasten finden.“ Ach, lesen Sie doch einfach selbst, und zwar gleich hier.

Literatur

Schuricht, Walter. „Das Motorrad und seine Behandlung. 4., verbesserte Auflage. Neudruck, 1920. Berlin: Richard Carl Schmidt & Co. Signatur: Oo 5111/85-18<4;a;s>
Alle Zitate entstammen dem Buch.

Die Philosophen unter den Motorradfahrern interessiert vielleicht Robert M. Pirsigs Roman „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten von 1976.

Fußnoten

(1) Mehr über Walter Schuricht erfahren Sie bei Wikipedia.

(2) Erstes Serien-Motorrad von Hildebrand und Wolfmüller (1894). Vgl. Meyer’s Lexikon von 1926, 7. Auflage, 4. Band, Spalte 414, im Artikel über das Fahrrad. Das allererste Fahrrad mit Motorantrieb stammt von Daimler (1883). Es sieht allerdings noch nicht wirklich straßentauglich aus… Besuchen Sie doch einmal die großartige enzyklopädische Abteilung im Lesesaal der Staatsbiblithek Unter den Linden!

 

 

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