Was so alles in der Welt bis 1471 passierte: Die deutsche Chronik eines unbekannten Autors
Eingebunden in einen mächtigen Einband des 15. Jahrhunderts mit Holzdeckeln und dunklem Lederbezug, mit Beschlägen an den Ecken, einem Buckel in der Mitte, der das Buch vor Beschädigung schützen soll, und mit einer Schließe, damit es nicht aufsperrt (Abb. 1), kommt eine Weltgeschichte daher, deren Autor nicht bekannt und deren Gestalt ohne Parallelen ist (Ms. germ. fol. 595). Dabei waren Weltchroniken beliebte Texte, die die Geschichte bis in die Gegenwart des Autors darstellen. Wie auch heute noch üblich, hat sich der anonyme Autor früherer Chroniken bedient, so die des Johannes de Utino, sowie anderer Texte, die mal genannt, mal nicht genannt werden – auch das wie heute noch üblich.
Gegliedert werden solche Chroniken in die sechs bekannten Weltalter, wobei ein siebtes, nämlich ein jenseitiges hinzuzuzählen ist. Mit unseren modernen Epochenbezeichnungen ist also hier nichts anzufangen. Das erste Weltalter fängt – logischerweise – beim ersten Menschen an. Das zweite hat Noah als Repräsentant, das dritte Abraham, das vierte David, das fünfte steht unter Zedekia, dem letzten König von Juda, und das sechste schließlich unter der Geburt Christi. Nicht verwunderlich, dass diese christlich ausgedeuteten Weltalter auf die biblische Erzählung gegründet sind und genau deshalb auch nicht verwunderlich, dass Frauen keine führende Rolle spielen.
Los geht also die Geschichte mit der Erschaffung Adams (Abb. 3). In sechs kleinen Medaillons wird die Schöpfung abgehandelt, um mit einem großen die Erschaffung Evas zu zeigen (also ist doch eine Frau dabei!). Hier zeigt sich die Struktur der timeline ein erstes Mal, die bis zum sechsten Weltalter die Gliederung bestimmt. Gefüllte Doppellinien gehen von dem großen Medaillon zu fünf kleinen, wobei das in der Mitte mit dem blauen Zeitstrahl das Wichtigste zu sein scheint. Der im Kreis befindliche Name Seth gehört dem dritten Sohn von Adam und Eva, den der Stammvater nach dem Tod von Kain mit 130 Jahren gezeugt haben soll. Seth führt genealogisch zu Noah, der wiederum zu Christus und damit wird er nach der Bibel zu unser aller Vorfahr.
Man sieht sofort, dass dieses Layout nicht gut in einem Kodex zu verwirklichen ist, denn die Zeitstrahlen werden unten bis an das Ende der Seite fortgeführt. Tatsächlich stammt es von einer Rollenchronik. Wie kompliziert das mit den Haupt- und Nebenwegen sein kann, demonstriert das dritte Zeitalter, für das als Hauptmedaillon die Opferung Isaaks gewählt wurde (Abb. 4): Um den Hauptzeitstrahl in Blau wuseln noch weitere in Gelb, in denen Namen auftauchen. Hat man schon hier den Eindruck, dass Geschichte nicht eingleisig zu erzählen und zu verstehen ist, wird es bei der Darstellung der Gesetzestafeln mit den zehn Geboten erst recht unübersichtlich (Abb. 5), denn neben dem blauen Hauptstrang gibt es einen grünen und einen roten sowie den gelben. Heils- und Profangeschichte werden nebeneinander erörtert.
Gemäß dem christozentrischen Weltbild ist das sechste Zeitalter am aufwendigsten ausgestattet (Abb. 6). Am größten ist das Medaillon mit der Geburt, in dem Maria und Joseph das schon recht große Neugeborene anbeten, das nicht in einer Krippe, sondern auf dem Mantel Mariens liegt. Danach folgt der Gekreuzigte in einer felsigen Landschaft und darunter der auferstandene Christus auf seinem Grab sitzend. Diese Darstellungen bilden eine Doppelseite mit einem großen Medaillon mit der Geisttaube, die umringt ist von den Namen der Apostel (Abb. 7). Hervorgehoben ist in roter Tinte oben der Name Maria, was nicht weiter verwunderlich ist, war sie doch beim Pfingstfest, auf das hier angespielt wird, zugegen. Anders jedoch der zweite Name in Rot, an ebenso prominenter Stelle unten, Magdalena. Von der Büßerin ist nicht bekannt, dass sie bei der Ausgießung des heiligen Geists dabei gewesen ist. Bernd Michael hat deshalb überlegt, ob die Handschrift in einem dieser Heiligen geweihten Kloster entstanden sein könnte (in: Aderlass und Seelentrost). Ihr Entstehungsort ist nicht bekannt; um 1600 gehörte sie Jakob Andrä von Brandis; 1846 fand sie ihre Heimstatt in der Stabi.
Nachdem also die biblische Geschichte abgehandelt worden ist und wir uns im sechsten Weltalter befinden, lässt die Illuminierung spürbar nach, auch die komplizierten Zeitstrahlen haben ein Ende. Die Reihe der Päpste eröffnet mit einem Medaillon mit einem segnenden sitzenden Petrus mit der dreistufigen Krone, der Tiara, auf dem Kopf und den Schlüsseln in der Linken (Abb. 8). Der im Jahr 79 vermutlich in Rom gestorbene erste/zweite Papst Linus muss lediglich mit seinem Namen in der Kreisform auskommen. Die Kaiser und Könige erleiden ein ähnliches Schicksal, auch sie werden nicht dargestellt.
Die Entstehungszeit der deutschen Chronik kann man anhand von einem Eintrag über den letzten Papst datieren (Abb. 9); der Kodex muss nach 1471 entstanden sein, als Francesco della Rovere als Papst Sixtus IV. am 9. August den Stuhl Petri bestieg. Am Rand ist in Rot die Jahreszahl MCCCCLXXI zu lesen; als wäre man sich nicht so sicher, wie dieser neue Papst sich nennen würde, ist der Namenseintrag in deutlich flüchtigerer Schrift als bei seinem Vorgänger geschrieben.
Schon das Inhaltsverzeichnis zu Beginn gibt an, dass neben der Weltchronik noch ein weiterer Text zu erwarten ist, nämlich Honorius de Mappa mundi in mago (Abb. 2). Es handelt sich um das erste Buch der Imago mundi des Honorius Augustodonensis auf Deutsch, auch das ein enzyklopädisches Chronikwerk (ab fol. 82). Erstaunlich gut passt der letzte, in den dicken Einband gebundene Text vom Format und vom Inhalt her zum vorherigen (Abb. 10). Auch ein Imago mundi, jedoch auf Latein, als gekürzte Fassung von Buch 1 bis 3. Hier schmückt eine zweifarbige Initiale mit kopfstempelförmigen Aussparungen den Textanfang. Dieses „Bild der Welt“ ist viel früher in gotischer Buchschrift entstanden, da jedoch weder Buchschmuck noch Schrift datierbare Hinweise liefern, muss man sich mit der Angabe 14. Jahrhundert zufriedengeben.
Die Schriftsprache des Haupttextes wird als bairisch mit fränkischen Elementen identifiziert, wobei genauere Untersuchungen sicher noch eindeutigere Ergebnisse liefern könnten. Anhand einiger chronikalischer Nachrichten wird eine Entstehungszeit dieses Teils in die 1480er bis 1490er Jahre datiert. Inwieweit die für die Bildmedaillons genutzten Vorlagen zu einer präziseren örtlichen und zeitlichen Einordnung dienen können, muss noch erforscht werden. So scheint es, als verdiene die deutsche Chronik viel mehr Aufmerksamkeit! Wer es nicht geschafft hat, sie sich im Stabi Kulturwerk anzuschauen, kann das Digitalisat durchblättern.
Literatur:
Ms. germ. fol. 595 im Handschriftenportal.
Peter Jörg Becker und Eef Overgaauw (Hg.), Aderlass und Seelentrost. Die Überlieferung deutscher Texte im Spiegel Berliner Handschriften und Inkunabeln, Ausst.-Kat. Berlin 2003, Nr. 203 (Bernd Michael).
Historisches Lexikon Bayerns, Weltchronik (Franz Nagel).















https://creativecommons.org/publicdomain/mark/1.0/deed.de


Ihr Kommentar
An Diskussion beteiligen?Hinterlassen Sie uns einen Kommentar!