Kreuz und Que(e)r Exkurs: Queere Comics aus Nordamerika
Spätestens seit dem phänomenalen Erfolg von Alison Bechdels „Fun Home. A Family Tragicomic“ (Signatur: 1 A 692702) aus dem Jahr 2006 gelten Comics als Literatur. Diese autobiographische Graphic Novel der lesbischen US-Amerikanerin Bechdel, von der später noch die Rede sein wird, landete auf etlichen Jahresbestenlisten und fand auch in der deutschen Übersetzung Beachtung. Der mittlerweile auch im deutschen Sprachraum gebräuchliche Begriff „Graphic Novel“ verweist ebenfalls auf die gewachsene Anerkennung: Das Literarische – Novel/Roman – steckt hier schon im Namen. Und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass eine Amerikanerin solch einen durchschlagenden Erfolg hatte, haben die Vereinigten Staaten doch von Walt Disney über Will Eisner und Art Spiegelmann bis zu Alan Moore immer wieder erstaunliche und langlebige Werke hervorgebracht.
Schon seit geraumer Zeit sammelt auch die Stabi Comics. Darunter befinden sich etliche queere Comics, und so möchten wir zum Abschluss unserer Beitragsreihe „Kreuz und Que(e)r“ einen kleinen Überblick über Queere nordamerikanische Comics der letzten 50 Jahre im Bestand der Staatsbibliothek geben. Mit Ihrer Ausweisnummer und Ihrem Passwort haben Sie Zugang zur Volltextdatenbank „Underground and Independent Comics, Comix and Graphic Novels“. Hier finden Sie viele der frühen queeren Comics. In diesem Beitrag erkennen Sie die Bücher, die wir physisch im Bestand haben, daran, dass hinter dem Buchtitel die verlinkte Signatur steht. Die Comics, auf welche Sie Volltextzugriff haben, erkennen Sie daran, dass der Titel selbst verlinkt ist.
Auch die Wissenschaft hat sich Comics als Forschungsgegenstand genommen. Die erste maßgebliche Studie ist Scott McClouds „Understanding Comics“ (1 B 167135) von 1994, auf deutsch als „Comics richtig lesen“ (53 MB 838) erschienen. McCloud liefert eine äußerst lesenswerte Analyse der Funktionsweise von Comics als erzählender Kunstform. Als deutschsprachige Studien zum Thema seien Ole Frahms „Die Sprache des Comics“ von 2010 und Jonas Engelmanns „Gerahmter Diskurs. Gesellschaftsbilder im Independent Comic“ von 2013 empfohlen. Wenn Sie auf der Suche nach wissenschaftlichen Analysen dezidiert queerer Comics sind, werden Sie im „Routledge Companion to Gender and Sexuality in Comic Book Studies“, herausgegeben von Frederick Luis Aldama, oder in Kai Linkes Studie „Good White Queers? Racism and Whiteness in Queer U.S. Comics“ fündig. Die bislang umfassendste Anthologie queerer Comics wurde 2011 von Justin Hall unter dem Titel „No Straight Lines. Four Decades of Queer Comics“ (1 B 168767) herausgegeben. „No Straight Lines“ erschien bei Fantagraphics, dem wichtigsten US-amerikanischen Verlag für alternative Comics.
Die ersten queeren Comics in den USA entstanden im Kontext der Underground Comix der 1960er und 1970er-Jahre, deren Verfasser*innen Wert darauf legten, Comix mit „x“ zu schreiben um sich von den syndikalisierten Mainstream-Comics abzugrenzen – daher die merkwürdige Aufzählung im Namen der oben genannten Datenbank, „Comics, Comix and Graphic Novels“. Ein früher, kurzer, queerer Comic-Strip ist „Sandy Comes Out“ von der heterosexuellen Comiczeichnerin Trina Robbins, die darin die Geschichte des Coming Outs ihrer Freundin erzählt. Veröffentlicht wurde „Sandy Comes Out“ in der ersten Ausgabe der feministischen Comix-Sammlung „Wimmen’s Comix“.
Parallel dazu fangen queere Comic-Autor*innen aber auch an, ihre Geschichten selbst zu erzählen. Eine der Pionierinnen ist Roberta Gregory, Tochter eines Disney-Zeichners. Gregory hat ab Mitte der 1970er-Jahre ebenfalls für „Wimmen’s Comix“ gezeichnet. 1976 veröffentlichte sie den autobiographischen lesbischen Comic „Dynamite Damsels“ und ab 1980 war sie in fast jeder Ausgabe von „Gay Comix“ vertreten. In den 1990er-Jahren zeichnet sie ihre vermutlich bekanntesten Figuren, die heterosexuelle Bitchy Bitch und die lesbische Bitchy Butch, zwei junge Frauen die ihrer Wut aufs Patriarchat freien Lauf lassen. Viele dieser Comics können über die Datenbank „Underground and Independent Comics, Comix and Graphic Novels“ gelesen werden. Beispielhaft sei hier „Bitchy Butch – World’s Angriest Dyke“ genannt, der erste, bei Fantagraphics erschienene, Sammelband von Bitchy Butch Comics.
Howard Cruse (1944-2019) war eine weitere wichtige Figur der queeren Comix-Szene der 1980er und 90er Jahre. Cruse publizierte regelmäßige Comic-Strips in den schwulen Zeitschriften der USA, nachzulesen in „Dancin‘ Nekkid with the Angels“ und „The Complete Wendel“, und gab ab 1980 das Magazin „Gay Comix“ heraus. Herausragend ist Cruses Graphic Novel „Stuck Rubber Baby“ von 1995. Protagonist und Erzähler von Stuck Rubber Baby ist der weiße Toland Polk, der in den 50er- und 60er-Jahren in den Südstaaten der USA aufgewachsen ist. In der Rahmenhandlung sehen wir Toland als Mittvierziger, der seine Erinnerungen an die Zeit der Bürgerrechtsbewegung erzählt. Anders als seine weiße Herkunftsfamilie, freundet sich Toland mit Schwarzen Menschen an, hat als junger Erwachsener eine erste Liebesbeziehung mit einem Schwarzen, und wird somit auf andere Weise Zeuge der mörderischen Gewalt, der Schwarze Menschen in den Südstaaten ausgesetzt sind. Eine der Stärken von Cruses Graphic Novel ist, dass er die Schwarze Südstaaten-Community, die er zeigt, als viel akzeptierender bezüglich Homosexualität darstellt, als gängige Vorurteile dies nahelegen. Cruses Graphic Novel verhandelt die Verflechtungen von Erinnerung und Begehren mit einer Komplexität, die Mitte der 90er für das Genre noch alles andere als selbstverständlich ist. Somit ist „Stuck Rubber Baby“ der wichtigste Vorläufer von Bechdels späteren Graphic Novels. Die hier verlinkte Online-Version von „Stuck Rubber Baby“ ermöglicht durch 4-fach-Zoom eine genaue Ansicht von Cruses unfassbar detailliertem Zeichenstil. Dieser arbeitsintensive Stil dürfte ein Grund dafür sein, dass Cruse nur eine Graphic Novel veröffentlicht hat. 2022 erschien bei Rutgers University Press „The Life and Comics of Howard Cruse“ (10 A 143193) von Andrew J. Kunka, in dem viele von Cruses kurzen Formaten abgedruckt sind.
Der schwule afro-amerikanische Science-Fiction-Autor Samuel R. Delany ist kein Comic-Zeichner, hat aber gemeinsam mit der Künstlerin Mia Wolff 1999 die Graphic Novella „Bread & Wine. An Erotic Tale of New York“ (1 B 202386) veröffentlicht. Delany gehört zu den Autoren, die sich schon früh auch theoretisch mit den literarischen Genres befasst hat, denen die Anerkennung als Literatur lange versagt wurde und die er als „paraliterarisch“ bezeichnet. So liefert er z.B. in seinem Aufsatz „The Politics of Paraliterary Criticism“ eine sehr lesenswerte Kritik von Scott McClouds „Understanding Comics“. Der Aufsatz ist in Delanys Essayband „Shorter Views: Queer Thoughts & The Politics of the Paraliterary“ (1 A 436183) abgedruckt. In „Bread & Wine“ erzählen Delany (Text) und Wolff (Zeichnung) wie Delany seinen Partner Dennis Rickett kennen gelernt hat. Zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens ist Dennis bereits seit sechs Jahren obdachlos und verkauft auf der Straße Bücher. Diese Liebesgeschichte ist gespickt mit Zitaten aus der deutschen Romantik, die einerseits einen Kontrast zur Lebensrealität von Dennis bilden, andererseits mit ihrer Faszination für die Nacht, das Fantastische und das Unvorhersehbare dazu beitragen, das Ungewöhnliche dieser Begegnung zu erläutern sowie und die kleinen Details einer entstehenden Liebe zu überhöhen. Wichtigster Referenztext ist hier Hölderlins Elegie „Brod und Wein“, die Delanys und Wolffs Text auch ihren Namen gibt. Alan Moore schreibt in seinem Vorwort über „Bread & Wine“: „It is perhaps the most entirely moving piece that [Delany] has ever written, this in one oft he most deeply felt bodies of work to grace contemporary literature“.
Der ästhetische Einfluss von Punk, der schon bei Roberta Gregory eine wichtige Rolle gespielt hat (und der sich auch in den Comics von Jennifer Camper und Diane DiMassa zeigt) spielt eine zentrale Rolle in der Comic-Serie, die beträchtlichen Anteil am Erfolg von Fantagraphics hatte und die trotz zentraler queerer Inhalte nicht unbedingt immer im Kontext queerer Comics erwähnt wird. Die Rede ist von „Love and Rockets“ der Brüder Gilbert und Jaime (und anfänglich auch Mario) Hernandez. In „Love and Rockets“ sind drei Frauen die Hauptfiguren: Maggie, Hopey und Luba. Hopey ist lesbisch und spielt Bass in einer Punkband. Maggie ist Automechanikerin und Hopeys beste Freundin. Manchmal sind die beiden auch ein Paar, Maggie datet ansonsten Männer. Beide leben in Hopper/Huerta, einer fiktiven Stadt in Kalifornien. Luba lebt in Palomar, einer fiktiven Stadt in Lateinamerika, deren Bürgermeisterin sie im Laufe der Serie wird. „Love and Rockets“ besteht aus einer Reihe von unterschiedlichen, nicht unbedingt miteinander verbundenen, Handlungssträngen, von denen die Palomar-Geschichten mit Luba (geschrieben von Gilbert Hernandez) und die Locas-Geschichten mit Maggie und Hopey (geschrieben von Jaime Hernandez) die prominentesten sind. Der erste „Love and Rockets“-Comic erschien 1981 und nach einer Unterbrechung von 1996 bis 2001 schreiben die Hernandez-Brüder die Geschichten auch heute noch weiter. Online haben Sie Zugriff auf viele der frühen Comics. Des weiteren haben wir einige Graphic Novels aus dem „Love and Rockets“-Universum von Gilbert Hernandez in unserem Bestand.
Die eingangs erwähnte Alison Bechdel veröffentlichte seit 1983 die Comic-Strip-Serie „Dykes to Watch Out For“, die in den 1990er-Jahren regelmäßig in vielen queere Zeitschriften und Magazinen in den USA abgedruckt wurde. Diese beliebten Geschichten um Mo und ihre lesbischen und queeren Freund*innen lassen sich heute als eine Art Bewegungsgeschichte lesen, an der sich gut ablesen lässt, wann welche Themen diskutiert wurden. 2006 veröffentlichte sie mit „Fun Home“ das Buch, welches sie weit über die queere Szene hinaus bekannt machte. In „Fun Home“ widmet sich Bechdel ihrem Verhältnis zum Vater, von dem sie annimmt, dass er schwul war, und hinter dessen tödlichem Verkehrsunfall sie einen Suizid vermutet. Das „Fun“ im Titel steht für „Funeral“, Beerdigung: Die Eltern betrieben im Haus der Familie ein Bestattungsunternehmen und „Fun Home“ ist der ironische Name, den Alison und ihre Brüder ihrem Zuhause gegeben haben. In assoziativem Erzählfluss betrachtet Bechdel die psychologischen Zusammenhänge ihrer Familie mit erstaunlicher Tiefe und Klarheit. So fragt sie unter anderem, was ihr eigenes Coming Out mit dem Suizid des Vaters zu tun gehabt haben kann. Bechdel hat bislang zwei weitere autobiographische Graphic Novels veröffentlicht: „Are You My Mother?“ (2012), in dem es, wie der Titel deutlich macht, um ihr Verhältnis zur Mutter geht, und 2021 „The Secret to Superhuman Strength“ (53 BB 11502), in dem sie sich ihren eigenen Obsessionen widmet.
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