Handzeichnungen der Berthold-Bibliothek für den Fotosatz – „Artwork diatronic, 19 Meter, 270.000 Handzeichnungen“

Ein Gastbeitrag von Kerstin Wallbach, Marcel Ruhl (Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin) und Dr. Dan Reynolds (Hochschule Niederrhein), Mitglied des wissenschaftlichen Beirats unseres gemeinsamen digiS-Digitalisierungsprojekts Die Sichtbarmachung des Sichtbaren – Berlins typografisches Kulturerbe im Open Access mit Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin, Erik Spiekermann Foundation gGmbH und Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin.

2179 Rote Schriftkassetten im Sammlungsdepot

Ein großer Teil der Sammlung des Deutschen Technikmuseum ist nicht im Rahmen der Dauerausstellungen zu sehen. Dazu gehören auch die „Original Handzeichnungen der Berthold-Bibliothek für den Fotosatz“ (I.2.046) in Form von 32 Metallschränken, welche sich – mit Ausnahme einer einzigen ausgestellten Kassette – im Depot des Deutschen Technikmuseums befinden. Dieser Bestand ist Teil des Archivs der 1858 gegründeten und 1993 vom Markt verschwundenen H. Berthold AG, die als ehemals größte Schriftgießerei der Welt zentrale Bedeutung für das eingangs erwähnte Verbundprojekt zur Digitalisierung des typografischen Kulturerbes Berlins hat.

Die Handzeichnungen gelangten am 11.7.1995 als Schenkung der Fa. Berthold in Form von zwei Teilbeständen in die Sammlung. Ein Umzug vom Sammlungsdepot in das Historische Archiv des Museums ist für die nähere Zukunft geplant. In beschreibenden internen Unterlagen aus der Zeit um 1995 wird der Teilbestand mit den roten Kassetten bezeichnet als „Artwork diatronic (rote Kästen) à ca. 19m Schränke à ca. 257.000 Handzeichnungen“. Erwähnt wurde er bereits 2022 in Zusammenhang mit einem Interview von Alexander Nagel, in dem er darauf hinwies, dass sich die Schriftenvielfalt durch die neue Technologie des Fotosatzes enorm erhöhte.

Ansicht der Schränke im Depot SDTB


Von Aeterna bis Zapf International

Die roten Kassetten in den Schränken sind sortiert von A (= Aeterna) bis Z (= ITC Zapf International). Im letzten Schrank, Nr. 32, ist auf der rechten Seite nach „ITC Zapf International“ die alphabetische Sortierung aufgehoben und es finden sich weitere Einzelkassetten ohne erkennbares System. In den Kassetten selbst befinden sich Schrift-, Zahlen- und Zeichenentwürfe auf Folien. Jede einzelne Folie zeigt jeweils ein Schriftzeichen. Die Zeichen bildeten die finalen Vorlagen für Zeichen auf den Schriftträgern der H. Berthold AG im Bereich Fotosatzgeräte sowie für bereits digital gespeicherte Fonts. Dieser bislang unerschlossene Quellenbestand könnte der typografiehistorischen Forschung also völlig neue Möglichkeiten, für die Rekonstruktion des Schöpfungsprozesses von Druckschriften eröffnen.

Ihre besondere Bedeutung liegt zum einen darin, dass die Zeichnungen das letzte „Original“ sind bevor die Buchstaben auf die Schriftscheiben projiziert wurden. Die Kassetten haben das Format 45 (B) x 250 (H) x 325 (T) cm. Da die Zeichen größer sind als auf den Schriftscheiben, sind ihre Formen sehr gut nachvollziehbar. Anhand der vorhandenen senkrechten Striche lässt sich die Dickte der Zeichen entnehmen. Vermutlich sind auch unveröffentlichte Schriften und Auftragsarbeiten für Firmen enthalten.

Nofret halbfett und New Johnston Signs

Die Sortierung der Schränke selbst ist – neben der alphabetischen Sortierung der Kassetten – erkennbar durch kleine Ziffern jeweils rechts neben den Schlössern. Diese vorgefundene Nummerierung der Schränke bildete die Grundlage für die archivische Erfassung und Signierung der Einzelkassetten. Dies bedeutet, dass es sich beispielsweise bei der Signatur I.2.046-01-27 um die 27. Kassette des 1. Schrankes handelt.

Seit 1967 wurden Berthold-Schriften im Zeichnungsatelier in Taufkirchen bei München angefertigt, hier in den 1980er-Jahren für einen Berthold-Werbefilm gezeigt und erklärt. Natürlich gibt es aber auch Bezüge zum Fotosatz-Atelier der H. Berthold AG in Berlin.

Sammlungsdaten sind Forschungsdaten Die Materialien aus den Fotosatz- und Zeichnungsateliers bieten wichtige Ansätze für wissenschaftliche Forschungen zur Design- wie zur Sozialgeschichte, indem sie etwa den hohen Anteil von Grafikerinnen in den Fotosatzateliers sichtbar machen. Die Bezüge zu dem 2021 abgeschlossenen britischen Projekt „Women in Type“ liegen auf der Hand. Die Sichtung der vorliegenden Bestände dürfte damit nicht nur neue Erkenntnisse über die Herstellung der Schriften der H. Berthold AG für den Fotosatz ermöglichen, sondern auch über die Anfangszeit digitaler Schriftgestaltung ab Ende der 1960er Jahre bis in die 1990er-Jahre, unter anderem auch darüber, wer für jede Reinzeichnung verantwortlich war.

Zugehörige Bestände im Historischen Archiv

Bis wann der Herstellungszeitraum genau reichen wird und von wem die Entwürfe jeweils stammten wird sich zum einen aus weiteren Forschungen ergeben und zum anderen aus der Verzeichnung von dazugehörigen Aktenbeständen aus der Abteilung Schriftträgerfertigung, die aktuell im Historischen Archiv des Deutschen Technikmuseum erfolgt.

Es handelt sich dabei um 77 Ordner mit Auftragstaschen aus dem Zeichenatelier, 26 Ordner mit Protokollen diatype und 33 Ordner mit Protokollen diatronic. Die beiden letztgenannten Aktenkonvolute enthalten überwiegend Folien, welche mit den in einem Schriftschnitt enthaltenen Figuren, der Schriftnummer und dem Erstellungsdatum belichtet sind. In diesen sind keine weitere Korrespondenzen oder Korrekturvermerke abgeheftet. Diese Ordner sind bisher nicht verzeichnet und nur über die Schriftnummer von Berthold zugänglich. In dem aktuell in Bearbeitung befindlichen Aktenkonvolut sind überwiegend die Auftragstaschen aus dem Zeichenatelier der Abteilung Schriftträgerfertigung der Berthold AG enthalten. In diesen finden sich Figurenverzeichnisse als Probeandrucke, Korrekturzeichnungen und -anmerkungen, interne Vermerke sowie seltener Korrespondenz mit SchriftdesignerInnen oder AuftraggeberInnen. Manchmal sind diese Auftragstaschen, aus unbekannten Gründen, leer – sie stellen aufgrund der enthaltenen Eintragungen dennoch eine wertvolle Quelle dar. Diese geben Auskunft über das Datum der Fertigung, Arbeitsschritte und beteiligte Personen sowie teilweise Lizenzgeber. Aufgrund der Formierung des Materials haben sich die Mitarbeitenden des Historischen Archivs dazu entschlossen, die Auftragstaschen einzeln nach Schriftschnitt aufzunehmen. Es sind schätzungsweise ca. 3.850 Auftragstaschen vorhanden, die nach und nach in die Archivdatenbank aufgenommen werden.

Next Generation

Die Arbeit mit Archiv- und Museumsbeständen ist undenkbar ohne die vielen Hinweise und das Wissen von Interessierten und Nutzenden. Sie tragen erheblich dazu bei, die Qualität der Daten zu verbessern und mit Inhalten anzureichern. Im Februar 2024 wird es zudem ein Praxisprojekt geben mit Studierenden der HTW-Berlin, Fachbereich Museologie, bei dem die „blauen Kassetten“ der Berthold Fototypes GmbH, München, genauer: „Artwork staromat (blaue Kästen), à ca. 7 m Schränke à ca. 140.000 Handzeichnungen“ in kurzer Zeit grunderfasst werden.

Die Liste mit den bisher verzeichneten und lesbaren Schriften ist als Excel-Tabelle mit jeweils 2 Arbeitsfotos je Schrank vorübergehend für mehrere Jahre zu finden unter:
https://sdtb-intern.nextcloud.hosting/index.php/s/4swypAs5P9XsAA8

 

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