Diktiergerät und Schneeketten
Der Bearbeitung von und dem Umgang mit Nachlässen wohnt stets ein besonderer Zauber inne. Kaum je kommt man einem Autor oder einer Autorin näher als beim Öffnen der Kartons, in denen die Nachlassmaterialien vertrauensvoll der Bibliothek übergeben wurden, bei der Durchsicht der Typoskripte mit den handschriftlichen Anmerkungen, der Notizzettel, auf denen Ideen für zukünftige Werke festgehalten wurden, oder auch der Bände aus der persönlichen Handbibliothek, die zuweilen zahlreiche Randnotizen aufweisen.
Der Nachlass eines Kinder- und Jugendbuchautors – und ganz besonders der von Otfried Preußler – stellt nur insofern eine Ausnahme dar, als dass das Material, welches sich in diesem Nachlass findet, noch ungleich vielfältiger ist: Handpuppen, wie sie der Autor in seiner Zeit als junger Lehrer für seine vielköpfige Schülerschaft selber spielte, Zuschriften ganzer Schulklassen (auch in Rotulusform) an den späteren Autor Otfried Preußler, Kinderbriefe (gut 20 Ordner), zudem Spiele, Puzzles, Schallplatten und Cassetten zu oder mit seinen Werken, eine Weihnachtskrippe (für Preußler stets von besonderem Interesse) und nicht zuletzt zwei seiner Mützen, eine Lesebrille, sein Diktiergerät und – „Schneeketten“.
Das Diktiergerät und die „Schneeketten“ – ein Rutschschutz für die Winterstiefel – gehören unmittelbar zusammen und stechen aus den sonstigen Nachlassmaterialien hervor.
Der Hintergrund:
Otfried Preußler war mit der Tradition des mündlichen Erzählens aufgewachsen. Insbesondere seine Großmutter Dora sowie sein Vater, Josef Syrowatka (ab 1941: Preußler), erzählten dem wissbegierigen Jungen Märchen und Sagen aus Böhmen, der damaligen Heimat der Familie. Als junger Autor verfasste Otfried Preußler zunächst vor allem Gedichte – bei denen, ebenso wie bei mündlichen Erzählungen, der Klang der Werke von grundlegender Bedeutung war. Als er in den 1950er Jahren als junger Lehrer die mündliche Erzähltradition seiner Familie wieder aufnahm, konnte er die Wirkung seiner Geschichten und seiner Wortwahl an den enorm großen Klassen, die er zu beschulen hatte, als auch an seinen drei Töchtern unmittelbar ausprobieren.
Doch wie schafft man den Sprung vom mündlichen Erzählen in die Verschriftlichung des Erzählten? Zu diesem Zweck benutzte Otfried Preußler ein Diktiergerät, dem er seine Geschichten wie gewohnt und bewährt „erzählen“ konnte. Diese Aufzeichnungen, die er teils noch während der Aufnahme redigierte, hörte er später ab und schrieb sie auf.
Während der Diktate pflegte der Autor spazieren zu gehen. Dazu ließ er sich, als seine Töchter erwachsen waren, von einer von ihnen irgendwo „aussetzen“, so erzählte Dr. Susanne Preußler-Bitsch, die jüngste Tochter, und dann wanderte der Vater mit seinem Diktiergerät in der Hand heim.
Auf diese Art und Weise wurde auch Preußlers spätere langjährige Sekretärin, Christine Annies, auf den fleißigen Spaziergänger aufmerksam – und hielt ihn wegen der ungewöhnlichen ständigen Begleitung seines Diktiergeräts zunächst für einen russischen Spion. Später war sie es dann, die Preußlers mündliche Erzählungen vom Diktiergerät in lesbaren Text überführte. [Vgl. Interview im Münchener Merkur]
Eine Krise drohte, als die Firma Olympus den Typ des von Otfried Preußler sehr wertgeschätzten Gerätes, Pearlcorder J 300, vom Markt nahm. Die älteste Tochter, Regine Stigloher, so berichtet Tilmann Spreckelsen in seiner Preußler-Biografie, „bearbeitete […] den Hersteller so lange, bis sie die Restbestände aufkaufen durfte.“ [Spreckelsen, Tilmann: Otfried Preußler : ein Leben in Geschichten. – Stuttgart : Thienemann, 2023. S. 159. Signatur: KJ LS Cs 6758]
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Existenz der „Schneeketten“ ganz von selbst: Die literarische Produktion konnte ja im Winter nicht stillstehen! Otfried Preußler wanderte und diktierte weiter … Winterzeit, tief verschneit lautet der Titel eines seiner letzten Bücher – und man sieht, eingedenk der „Schneeketten“, sogleich den Autor mit rutschgesicherten Winterstiefeln und dem Diktiergerät in den behandschuhten Händen durch den tief verschneiten Winterwald stapfen. – Ohne den Inhalt dieser Nachlasskiste wäre man nie darauf gekommen.
[Preußler, Otfried: Winterzeit, tief verschneit : Ein Dutzend und eine Geschichte für Große und Kleine / Otfried Preußler. [Gesamtausstattung:] Daniela Chudzinski. Hrsg. von Regine Stigloher. – Stuttgart : Thienemann, 2011. Signatur: 53 MA 900115]
Dem Vortrag von Tilmann Spreckelsen am Freitag, den 17. November 2023, sehen wir mit großer Spannung und Vorfreude entgegen!
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